Volksleiden Schlafmangel? Na dann – gut Nacht!

Einst waren wir Pioniere. Und heute? Geniale Forscher und innovative KMU sind weiter am Werk. Insgesamt aber schwenkt die Mentalität vom evolutionären Spirit zur satten Gegenwartsfrömmigkeit.

Ich war eben zum «Aargauer Wirtschaftstag» eingeladen, organisiert vom Aargauer Gewerbeverband und der Aargauischen Kantonalbank –
unter dem Motto: «Flexibel bleiben – Chancen nutzen». Goldrichtig. Wollen alle, oder? Finden alle prima – theoretisch. Nur in der Praxis hapert es. Warum? Simple Antwort: Es ist entschieden gemütlicher, unflexibel zu sein. Es ist klar angenehmer, Chancen verstreichen zu lassen. Also zu verhocken – mit der selbstzufriedenen Abwehr: Es geht uns doch gut, oder nicht?

Fristerstreckung für Gegenwart


Eben. Was aber wollen wir, wenn es uns so fabelhaft gut geht? Alles – bloss keine Veränderung. Wir haben zu viel zu verlieren, jedenfalls fürchten wir das. Deshalb wollen wir lieber gar keine Zukunft, wir möchten Fristerstreckung für Gegenwart. Weil wir uns gar keinen anderen Ort vorstellen können, wo wir ebenso gerne wären. Ist verständlich – und prekär. Den Status quo konservieren? Eine Schnapsidee. Der Lack blättert absehbar ab. Siehe Mobilität. Läuft praktisch unverändert seit fünfzig Jahren, nur überall so viel dichter, dass sie kaum noch läuft, sondern stört und stockt und staut und stinkt und röhrt. Und – lassen wir uns was Neues einfallen? Wir flicken, mal da, mal dort.

«Heute dümpeln wir im Hinterfeld»


Einst waren wir Pioniere. Die CH-Sippe hatte im 19. Jahrhundert genug vom kargen Agrarleben. Sie baute das Land um, erfand Brücken und Eisenbahn. Und Bildung. Die Erfolgsstory glänzt. Das Völklein voralpiner Kleinbauern gab industriell den Takt an. Und heute? Geniale Forscher und innovative KMU sind weiter am Werk. Insgesamt aber schwenkt die Mentalität vom evolutionären Spirit zur satten Gegenwartsfrömmigkeit. Solartechnik? Waren wir einst Weltspitze (siehe «Spirit of Biel»), heute dümpeln wir im Hinterfeld. Digitalisierung? Mehr gedrängt als gewollt. Energiewende? Noch in diesem Jahrhundertprojekt spukt der alte «Atom-nein-danke»-Geist, eine im Kern technikskeptische Haltung, die zurück will zu Mutter Natur, die uns alles Nötige schenke, Sonne, Wind, Erdwärme. Dieselbe Haltung treibt den Kampf gegen 5G an, eine harmlose Technik, die wir im eigenen Mikrowellenherd sorglos nutzen. Doch wie viel Logik dürfen wir erwarten, solange gar Bundesräte glauben punkten zu können, wenn sie bekennen, in Mathe eine Niete (gewesen) zu sein?

Volksleiden Nr. 1: Schlafmangel


Gelegentlich kommt unsere Schlafmützigkeit richtig komisch durch – etwa kürzlich in der Schlagzeile: «Volksleiden Nr. 1: Schlafmangel! Und zu wenig Therapieangebote!» Na dann, gut Nacht! Hat man davon, wenn dem Volk dauernd eingetrichtert wird: In diesem Land dürfe man alles sein, doof, langweilig, unproduktiv – bloss nicht rauchen und kein zweites Glas Wein anfassen.
Flexibel bleiben? Ja bitte. Kann aber ungemütlich werden. Braucht Temperament, nicht bloss Fachkompetenz. Charakter, Wille, Leidenschaft. Flexibilität ist keine natürliche Mitgift. Sie mutet uns zu, aus unserer Selbstzufriedenheit aufzuwachen. Sie lebt vom Appetit auf Zukunft. Vom Traum eines besseren Lebens, eines schlaueren, intensiveren, amüsanteren.

Ludwig Hasler

Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch

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