«Ich würde alles wieder genau gleich machen»

In Zürich sind Pianobars und deren Protagonisten wie Borislava Chichkova (oder Bella C.), die auch singt, selten geworden. Wer die Karriere wählt, muss heute mehr Opfer bringen – und sehr mobil sein. Während ihrer Essenspause erzählte die Wahlwinterthurerin von der Zeitenwende in ihrer Branche. Und vom Leben als Barpianistin.

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Die Pianistin und ihr Arbeitsgerät: In der «Central 1»-Bar vor dem Auftritt.

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Die Pianistin und ihr Arbeitsgerät: In der «Central 1»-Bar vor dem Auftritt.

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Die Pianistin und ihr Arbeitsgerät: In der «Central 1»-Bar vor dem Auftritt.

Wir bewundern die Stars, jene, die in Konzertsälen als Solisten auftreten oder in bekannten Orchestern oder Bands spielen. Aber wer sich in Bars, an Partys und in Hotelhallen verdingt, wird als Künstler weniger wahrgenommen. Stört Sie das?

Bella C.: Nein, denn der Beweggrund für mich ist, die Menschen glücklich zu machen. Ich habe mir langsam und mit grosser Geduld einen Namen aufgebaut. Als junges Mädchen mit 20 merkte ich gar nicht, wie ernst mich die Menschen nahmen. Ich kam, um Spass zu haben – aber plötzlich sah ich, dass es sich auszahlt, die Lieder, Gäste und deren Stimmungen ebenfalls sehr ernst zu nehmen. Ein Schneeballeffekt: Man gibt und kriegt es wieder zurück.

Als singende Pianistin und Kleinunternehmerin müssen Sie mobil und flexibel sein. Wie wurden Sie zur Nomadin der Barmusik?

Bella C.: Damals, vor 30 Jahren, habe ich eine klassische Ausbildung auf dem Klavier absolviert. Ich dachte immer, dass ich klassische Konzerte geben würde. Aber dass ich so viel unterwegs sein würde und manchmal innert drei Tagen in drei Ländern, dass ich so viel vom Leben und der Welt sehen würde, hatte ich nicht erwartet. Es ist spannend, aber auch eine grosse Herausforderung.

«Ich merkte: Es ist schwierig, mit klassischer Musik die Rechnungen zu zahlen.»

Borislava Chichkova, Pianistin und Sängerin, Winterthur

Wie kam es denn zum Bruch mit der Klassik und welches waren Ihre ersten Auftritte?

Bella C.: Interessanterweise hatten die Schlüsselmomente meiner Karriere mit schwangeren Frauen zu tun. Als Teenager in der Schule übernahm ich für meine schwangere Pianolehrerin deren Rolle in einem Theaterstück mit bekannten bulgarischen Schauspielern. So ging ich ein Jahr lang mit dem Theater auf Tour. Die zweite Situation war, als mich eine Freundin aus Zypern anrief und sagte, die Violinistin sei schwanger. Ich sprang da 1993 als Pianistin ein, und statt drei Monaten blieb ich dann drei Jahre. Zunächst begann ich solo auch mit Klassik, dann sagte mir jemand: «Du hast eine gute Stimme – sing mal was Populäres.» Und so entwickelte ich meinen Stil. Aus ursrpünglich einigen wenigen Songs in meinem Repertoire sind mittlerweile fast Tausend geworden.

Vertieften Sie sich wegen der Aufträge in populäre Stilrichtungen?

Bella C.: Nicht wirklich. Ich lerne nie Songs, die ich nicht mag. Ich suche immer positive Songs, etwas, das die Stimmung hebt. Eine gute Melodie ist eine, die den Menschen im Kopf bleibt – und im Herzen. Pop hat mich immer fasziniert. Nach meiner Klassik-Ausbildung merkte ich: Es ist schwierig, mit klassischer Musik die Rechnungen zu zahlen. Und ich durfte auf meinem Weg viele Städte kennen lernen, mich all diese Jahre entwickeln – musikalisch und als Mensch –, so dass ich alles wieder genau gleich machen würde.

In Ihrer Branche gibt es nicht viele Frauen – warum nicht?

Bella C.: Es ist kein einfacher Beruf, er braucht viel Kraft, Disziplin, Kompromisse mit sich selber. Ich habe keine Familie, räume meinem Beruf absolute Priorität ein. Das geht auf Kosten von Freunden und von Privatleben. Ich gehe um 3, 4 Uhr morgens zu Bett und stehe um 10 oder 11 Uhr auf. Viele haben eine grosse Liebe im Leben. Meine grösste Liebe ist die Musik. Und wir haben uns wie in einer Ehe ewige Treue versprochen.

Und diese Beziehung schläft nie ein mit den Jahren? Etwa dann, wenn Sie dasselbe Lied an einem Abend dreimal spielen müssen?

Bella C.: Nein, und das ist meine eigene bewusste Entscheidung, nicht eine Folge von Enttäuschungen im Leben. Die Musik ist ein Ort, an dem ich mich glücklich fühle – sei das auf der Bühne, an der Bar, egal: Dieser Zauber beginnt, wenn ich meine Hände am Piano habe und zu singen und spielen beginne.

Aber gibt es nicht noch weitere Gründe, warum Pianist eine Männerdomäne ist?

Bella C.: Ein Grund ist, dass Ehemänner ihre Frauen zu Hause haben wollen oder eifersüchtig sind. Aber hier in der Schweiz sind die Männer anständig. In Italien flirtet jeder mit einem, hier halten sie mehr Distanz – manchmal too much. Ich zweifle manchmal sogar an meinem Aussehen, weil die Schweizer einen wenn, dann nur verstohlen anschauen. Das brachte mich zunächst ins Grübeln, als ich herkam.

Abend für Abend rasen Ihre Finger über die Tasten. Dieses «Handwerk» nehmen die Gäste aber kaum wahr. Freilich sind Ihre Finger Ihre Lebensversicherung. Wie trainieren Sie diese?

Bella C.: Ich trainiere schon und versuche sie, wie auch meinen Körper und meine Stimme als weiteres «Investment», zu schonen. Anfang März, als ich erstmals seit 20 Jahren meine Stimme wegen einer Erkältung verlor, merkte ich, wie abhängig ich von der Stimme bin. Aber zum Glück habe ich noch meine Hände – und habe trotzdem gearbeitet. Das zeigt: Es ist ein interessanter, manchmal aber auch undankbarer Beruf.

Werden Sie also unterschätzt?

Bella C.: Ich habe schon so oft gehört: «Dein Job ist so einfach, am Piano sitzen und gut aussehen, das muss easy sein.» Niemand versteht, wie viele Stunden, Tage, Monate, Jahre Arbeit und klassische Ausbildung dahinterstecken. Und wer sechs Monate von der Bildfläche verschwindet, den kennt niemand mehr. Vor drei Monaten habe ich daher eine Selbstvermarktungs-Aktion gestartet: Ich habe über hundert Telefonanrufe getätigt, um mich zu präsentieren. Denn sonst vergessen einen die Auftraggeber.

Ihr Lieblingsauftritt?

Bella C.: Die Schweizer Vorausscheidung für den Eurovision Song Contest 2016 war unvergesslich. Ich habe nichts erwartet, bin dann Zweite geworden. Das Publikum hatte für mich gevotet, aber die Jury entschied sich, der Kanadierin Rykka den Vorzug zu geben – vielleicht in der Hoffnung, dass sie an den Erfolg von Céline Dion 1988 anknüpfen würde.

Ist es schwierig, die Menschen zu besingen, wenn sie einem kaum Beachtung schenken?

Bella C.: Nachdem ich in einer englischen Kolonie in Zypern mit sehr lebendigem Publikum gelebt hatte, bereitete mir das Schweizer Publikum anfänglich Mühe. Hier kam kaum eine Reaktion. Ich zweifelte an mir: Vielleicht war ich nicht gut genug, zu laut, spiele die falschen Songs? Ich merkte aber irgendwann, dass das einfach eine andere Mentalität ist. Viele Kollegen sind beleidigt, wenn sie keinen Applaus erhalten. Sie sagen: Es ist mir zu langweilig in der Schweiz. Was sie aber meinen ist: Die Leute klatschen nicht für meine Musik. Schweizer sind nicht langweilig, sie reagieren einfach anders, als es Musiker erwarten.

Pianobars sind ein Sehnsuchtsort. Wie berühren Sie die Menschen?

Bella C.: Es geht um Adaptation. Stellen Sie sich ein Ei vor, das man anklopft, um herauszufinden, wo es knackst: Ich experimentiere mit verschiedenen Stilen, bei älteren Gästen spiele ich Elvis, bei jüngeren vielleicht Miley Cyrus. Es braucht einen «Catch», danach kann man mit den Menschen arbeiten. Ein interessanter Prozess. Aber jeder Tag ist eine Überraschung: Man weiss nie genau, was funktionieren wird.

Live-Barpianisten scheinen nicht mehr so oft gefragt zu sein. Täuscht dieser Eindruck?

Bella C.: Nein, denn unsere Branche ist am Aussterben. Geht es so weiter, wird der Beruf in 25 Jahren ausgelöscht sein: Vermehrt besetzen DJs unsere Locations – buchstäblich: Oft werden Piano-Standorte durch DJ-Pulte ersetzt. Eine Schuhverkäuferin kann am Abend dank ihrer Playliste auf dem USB-Stick DJ sein. Das ist auch günstig: Sie sind wie eine Jukebox und müssen nichts lernen.

«Viele Musiker sind beleidigt, wenn sie keinen Applaus erhalten.»

Borislava Chichkova, Pianistin und Sängerin, Winterthur

Wird denn Live-Musik nicht geschätzt?

Bella C.: Das Problem ist, dass das Publikum keine musikalische Kultur mehr hat. Und wenn 20-Jährige in eine Bar mit Live-Musik kommen, schauen sie mich mit überraschtem Blick an, als wäre ein Ufo gelandet. Ausserdem bestätigen mir auch Berufskollegen, dass die Gagen seit 25 Jahren nicht gestiegen sind. Junge Hotelmanager wissen oft gar nicht, dass bei Live-Musik nach 45 Minuten 15 Minuten Pause gesetzlich vorgeschrieben sind. Unser Beruf wird falsch eingeschätzt. Auch ich arbeite jetzt mehr und verdiene weniger als früher. Heute kannst du es dir nicht leisten, krank, schwach oder faul zu werden.

Spüren Sie, dass Ihr Publikum älter wird, während die Jugend mit Spotify, Youtube und Netflix gross wird und Live-Musik nur noch ihres Eventcharakters wegen besucht?

Bella C.: Insbesondere das jüngere Publikum schätzt Live-Musik nicht, betrachtet sie als weitere Musikquelle wie Spotify oder Radio, ist es gewohnt, weiterzuklicken statt etwas zu Ende zu hören. Kaum jemand applaudiert, die 20-Jährigen schon gar nicht. Und wenn diese in eine Bar mit Live-Musik kommen, schauen sie mich mit überraschtem Blick an, wie wenn ein Ufo gelandet wäre.

Aber hier in der Central Bar kriegen Sie ja Trinkgeld?

Bella C.: Ja, aber nur hier. Ich spiele ausserdem im Dolder oder demnächst wieder im George Bar und Grill in Zürich, früher auch im Casino. Bei Ersterem gibt es aktuell aber nur freitags Pianomusik, an anderen Tagen legen DJs auf. Ich hoffe, dieser Trend wird bald wieder rückläufig.

Gestern kam übrigens auch eine nette junge Frau in die Bar, wollte alles über mein Equipment, meine Auftritte und mein Repertoire wissen. Ich erzählte ihr nicht, dass die Branche ein sinkendes Schiff ist – ich wollte ihr nicht die Stimmung ruinieren.

Wie schaffen Sie es, eine gesunde Lebensweise zu bewahren?

Bella C.: Dazu gehört grosse Disziplin – seit Jahren trinke ich keinen Tropfen Alkohol und ich rauche nicht. Ich bewege mich viel, trainiere Pilates und Yoga – alles, was meinen Rücken stärkt. Und ich sage immer: Die Menschen hören Musik mit dem Auge. Wenn man gut aussieht, ist das ein grosser Bonus. Dann sagen alle: Du singst gut. Aber dafür muss ich viel anderes opfern.

Wenn Pianisten weniger gefragt sind – wie sieht denn die Zukunft der angehenden Musikerinnen und Musiker aus?

Bella C.: Sie finden sicher ihren Weg. Junge sind kreativ, sie machen etwas Digitales, vielleicht in der Werbung. Aber ich bin zwischen zwei Generationen: Diese digitale Entwicklung hat so schnell stattgefunden und viele überrumpelt. Ich selber habe mich deshalb entschieden, ein «PJ» zu werden: Piano-DJ, ein von mir selber entwickelter Begriff. Bei Auftritten wechsle ich die Rolle zur DJane, die aber Live-Pianomusik in die Tracks einbaut. Es gibt DJs mit Saxofon, die das auch schon gemacht haben.

Sie haben auch einen Youtube-Kanal. Ist es heute wichtig, auch digital präsent zu sein?

Bella C.: Das ist wichtig, aber ich bin nicht gut darin – und ich habe wenig Zeit: Ich bin eine One-Woman-Band, meine eigene Managerin, Promoterin, transportiere meine eigenen Instrumente. Ein 16-jähriger Bulgare hilft mir aber mit der digitalen Produktion und Distribution meiner Videos.

Es gibt nicht überall Klaviere – das schränkt die Mobilität ein.

Bella C.: Das stimmt, aber ich habe Keyboards, ich kann mich anpassen. Letzthin war ich in der Alphütte Clavadatsch bei St. Moritz, da schleppte ich mein Keyboard und die Lautsprecher in eine Hütte auf 3000 Metern.

Sie sind sehr leutselig. Macht es trotzdem etwas einsam, mit Playback statt in einer Formation spielen zu müssen?

Bella C.: Gar nicht. Wenn ich am Piano bin und niemand klatscht, fühle ich mich nie einsam, traurig oder bedrückt. Das ganze Leben spiele ich bereits allein. In einer Formation zu spielen, irritiert mich viel mehr, die Playbacks sind hingegen koordiniert und fixfertig. Ich habe ein gutes Live-System entwickelt, wie ich finde.

Wie oft treten Sie auf?

Bella C.: Früher waren es rund 250 jährlich, mittlerweile sind es rund 150 – manchmal sehr viele hintereinander, dann eine lange Pause. Ich kann den ganzen Tage müde sein, aber sobald ich hier sitze, verschwinden die Müdigkeit, die Rückenschmerzen, die schlechte Stimmung.

Hatten Sie auch lästige Gäste?

Bella C.: Fast nie, jedenfalls nicht in der Schweiz. In Schweden, wo ich in Stockholm und Kiruna im Norden spielte, begleitete mich jeweils ein Bodyguard. Die Männer trinken viel, verlieren die Kontrolle und wollen einen küssen und berühren. Einmal hat mir einer einen Klaps auf den Po gegeben. Ich gab ihm eine Ohrfeige – er kam fünf Minuten später mit 1500 Kronen zurück, das waren 150 Franken. Anscheinend muss man dort die Männer schlagen, um zu Trinkgeld zu kommen (lacht).

Sie haben erstmals eigene Songs auf Bulgarisch veröffentlicht während Corona. Wie kam es dazu?

Bella C.: Die Coronazeit war ein guter Moment, weil ich das erste Mal längere Zeit nach Hause zurückkehrte. Ich begann, die Bibel zu lesen und Gedichte zu schreiben. Eigentlich bin ich Stier, mit beiden Füssen auf dem Boden. Aber die Gedichte schrieben sich praktisch von selber. Aus einigen dieser Gedichte wurden dann 40 Lieder. Jetzt bin ich in Bulgarien nominiert als Künstlerin und Album des Jahres. Gestern waren einige Bulgarinnen hier in der Bar. Ich brachte sie zum Lachen, zum Weinen und zum Tanzen – das ganze Paket an Emotionen. In solchen Momenten kriege auch ich Gänsehaut.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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