«Teilzeitarbeit ist eher ein Tabuthema auf dem Bau»

Baggerführer und Maurer können nicht im Home-office arbeiten. Und doch will das Bauunternehmen J. Wiederkehr AG einige familienfreundliche Weichen in der Personalpolitik stellen. Starthilfe gibt dem Familienbetrieb die Teilnahme am Pilot fürs Zertifikat «Work-Family Balance».

Bild zvg

Der Zukunftstag bei der J. Wiederkehr AG – eine der erarbeiteten Massnahmen.

Man fühlt sich zwischen dem älteren Mobiliar, den mit Papieren und Ordnern gesäumten Regalen von Bauunternehmer Josef Wiederkehr in Dietikon in ein analoges Zeitalter zurückversetzt – wären da nicht die Monitore. Hinter seinem Sessel hängt ein schwarzweisses Gemälde eines Geschäftsmannes, sitzend und in Anzug gekleidet. Der Manager (oder ist es ein Arbeiter im Sonntagsanzug?) hält etwas ungelenk ein übergrosses Kind fürsorglich auf dem Arm und gibt ihm ein Glas Milch zu trinken. Der Tessiner Maler Mario Comensoli widmete sich in vielen Arbeiterbildern den Immigranten in den 1950er- und 1960er-Jahren – und irgendwann auch deren sozialem Aufstieg mit dem «Wirtschaftswunder».
Das Immigrantenbild scheint seiner Zeit voraus zu sein. Es ist eines von mehreren Comensolis im Fundus des Familienunternehmens in vierter Generation. Mag sein, dass auch Josef Wiederkehr von den Fragen, die es aufwirft, fasziniert war. Sonst würde er den gesenkten, selbstzufriedenen Blick des Mannes im Nacken kaum tagein, tagaus ertragen. Die Rollenbilder in der Familie waren damals klar verteilt – so stellt der Mann mit Kind wohl eine Feierabendszene dar. Jedenfalls wird der Protagonist kaum über Arbeitszeiten, Teilzeitmodelle, Remote Work oder Co-working nachgedacht haben.
Ganz anders Bauunternehmer Wiederkehr: Statt zuzuwarten, bis vom Staat entsprechende Direktiven zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf kommen –, Stichwort «Elternzeit»-Initiative – wird er lieber selber aktiv. Die inhabergeführte Bauunternehmung mit 70 Mitarbeitenden beteiligte sich als Pilot an der Entwicklung eines neuen Zertifikats «Work-Family Balance» für familienfreundliche Personalpolitik. Gemeinsam mit der Schulthess Klinik in Zürich wurde so die J. Wiederkehr AG nach ausführlichen Mitarbeiter-befragungen und der Erarbeitung eines Massnahmenplans als erstes Unternehmen von der beratenden Pro Familia Schweiz und der Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Management-Systeme (SQS) im November mit dem Zertifikat ausgezeichnet. Die beiden Pilotbetriebe haben sich damit auch gleich verbindliche Ziele für die nächsten drei Jahre gesetzt. Die SQS stellt auch die ISO-Zertifikate für Qualitätsmanagement (ISO 9001) aus.

Familienfreundliche Baufirma?
Nun macht Letzteres fürs Gewerbe in der Regel nur ab einer gewissen Grösse Sinn. Berechtigt ist auch die Frage, ob die Baubran-che überhaupt familienfreundliche Strukturen schaffen kann. Solche Bedenken zerstreut Josef Wiederkehr im Gespräch: Die Zertifizierung habe ihm den Impuls gegeben, anspruchsvolle Themen wie Homeoffice und Teilzeitmodelle jetzt anzugehen. Und da es drei Stufen der Zertifizierung «Work-Family Balance» gibt, können auch KMU die unterste Stufe Basic Standard «leisten» – sowohl finanziell wie auch personell: So hat sich die J. Wiederkehr AG vorgenommen, innert drei Jahren vier Massnahmen zu erfüllen: «Homeof-
fice», «Notfallkinderbetreuung», «Teilzeit» und «Unterstützung Lehrstellensuche und Zukunftstag». Aber Grundvoraussetzung, damit überhaupt ein Zertifikat ausgestellt wird, sind prozedurale Massnahmen: Zum Beispiel Mitarbeiteranlässe zur Bekanntmachung der familienfreundlichen Strukturen, die auch im Leitbild Erwähnung finden müssen. Weiter musste eine Person für Familienfragen ernannt und instruiert werden.
So viel zur Theorie. Bei der Umsetzung ergaben sich einige praktische Probleme. So wurden die meisten Mitarbeiteranlässe wie das Weihnachtsessen während Corona abgesagt, und bereits bei den Mitarbeiterbefragungen, die auf Portugiesisch, Italienisch und Kroatisch übersetzt werden mussten, war die praktische Umsetzung (etwa auf der Baustelle) grösser als ursprünglich gedacht. Ein Faktor, der sich als Herausforderung erwies, der aber kaum messbar ist: die Kultur – und zwar nicht nur in der einzelnen Firma, sondern in der Branche und der Gesellschaft allgemein. Auch wenn die Mitarbeitenden «recht zufrieden» gewesen seien mit den Strukturen in der Firma, müssten auch sie sich vom Stempeluhr-Denken aus dem Industriezeit-
alter lösen, meint Wiederkehr.

«Mit einer staatlichen Regelung macht man den einen Mitarbeitenden und Betrieben vielleicht einen Gefallen – andere bestraft man.»

Josef Wiederkehr, Geschäftsführer J. Wiederkehr AG


Als ideale Plattform, um die Offenheit für neue Modelle zu kommunizieren, erwies sich dafür der Zukunftstag. Die berufliche Zukunft der Kinder zu themati-sieren, sei auch eine Form, den Familienalltag in den Betrieb zu integrieren und umgekehrt.

Grenzen von Remote Work
Viele Arbeitsabläufe können auf Kaderstufe digitalisiert werden – Pläne können eingescannt, Besprechungen mit dem Polier auf der Baustelle per Videochat geführt werden. Und wegen Corona musste die Baufirma auch in unerwarteten Bereichen flexibel sein. Viele Mitarbeitende waren zuletzt bei der J. Wiederkehr AG in Quarantäne, mehrere Bauführer sogar gleichzeitig. «Und da musste man sich zu helfen wissen.» Doch die eigentliche handwerkliche Arbeit lässt sich nicht vom Homeoffice steuern, dasselbe gilt für die Buchhaltung. «Nicht jede Massnahme lässt sich auf alle Mitarbeitenden übertragen», sagt Carla Bächli von Pro Familia Schweiz. «Aber jede Massnahme ist ein Schritt fürs einzelne Unternehmen.»
Um die Familienfreundlichkeit aber vermehrt leben zu können, müsse sie zur Selbstverständlichkeit werden. Und da gibt es noch zu tun: So erfuhr Josef Wiederkehr kürzlich von einem Mitarbeiter, dass seine Frau krank sei – er bat seinen Chef deshalb, aufs Kind aufpassen zu können. Dabei gäbe es in der Baufirma speziell für solche Situationen ein Notfallbett. «Ich selber empfand es als Entlastung, meinen kranken Sohn hier im Büro pflegen zu können», sagt Wiederkehr. Doch obwohl der Chef es vorlebt: Das Angebot sei noch nicht bei allen angelangt – ob bewusst oder unbewusst. Ähnlich verhält es sich mit Teilzeitarbeit: «Das ist eher ein Tabuthema auf dem Bau.» Nur ein Mitarbeiter und Familienvater auf einem Bauberuf habe sich für ein 80-Prozent-Modell entschieden. Ausnahmen sind die Büroangestellten, vor allem in der Buchhaltung: Hier wird eine Stelle schon seit Jahren im Jobsharing geteilt.
Josef Wiederkehr kennt als ehemaliger Kantonsrat (Die Mitte) die Diskussionen um die 36 Wochen Elternzeit im Kanton Zürich. Doch für ihn ist klar: Genauso wenig, wie unterschiedliche Firmenstrukturen und Branchen die Familienfreundlichkeit starr von Paragrafen ableiten können, kann eine Pauschallösung, wie die Initiative für eine 36-wöchige Elternzeit sie fordert, für alle sinnvoll sein. «Die Bedürfnisse der Mitarbeitenden sind sehr unterschiedlich, das hat unsere Umfrage gezeigt. Und mit einer staatlichen Regelung macht man den einen Mitarbeitenden und Betrieben vielleicht einen Gefallen – andere bestraft man», sagt Wiederkehr. Pro Familia, Geburtshelferin des «Work-Family Balance»-Zertifikats», sieht keinen Widerspruch zwischen der freiwilligen Zertifizierung und einer gesetzlich vorgeschriebenen Elternzeit. Grundsätzlich gilt für Carla Bächli: «Je mehr ein Unternehmen die Personalpolitik den Bedürfnissen der Mitarbeiter anpassen kann, desto besser sind der Output, die Zufriedenheit und das Vertrauen der Mitarbeiter.»
Josef Wiederkehr bleibt dabei: Ein freiwilliges Bekenntnis biete Unternehmen die bessere Chance, eigene Lösungen zu finden, als realitätsferne, pauschale neue Regulierungen und Abgaben für eine Elternzeit umzusetzen. Denn der Anreiz sei auch ohne Staat gegeben: So liege es ohnehin in der DNA des Familienbetriebs, pragmatisch bei privaten Problemen Hilfe anzubieten – bislang etwa beim Hauskauf, bei Krankenkassenprämien oder bei der Kredit-
beschaffung. Und als familienfreundliches Unternehmen schärfe man auch gegen aussen das Profil.

Regelmässige Audits
Jährlich wird sich die J. Wiederkehr AG nun einem Audit – einer Überprüfung der Massnahmen – unterziehen. Alle drei Jahre kann dann die Rezertifizierung erlangt werden. Carla Bächli schätzt den finanziellen Aufwand, den die Betriebe vor allem wegen der Mitarbeiterbefragung durch das Institut gfs Zürich sowie die Zertifizierung durch SQS haben, je nach Betriebsgrösse auf 2500 bis 7000 Franken für die ersten drei Jahre. «Das sind keine riesigen Summen», sagt auch Josef Wiederkehr. «Aber dadurch, dass wir beim Pilot mitmachten, war es sehr zeitaufwändig.» Doch beide sind sich einig: Die Vorarbeit war wichtig, um den Weg freizumachen für eine Zertifizierung, die viele weitere KMU zu diesem Schritt bewegen wird.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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