«Der Titel sagt dann wenig aus»

Der Trend zur Akademisierung schafft nicht bessere Arbeitskräfte, ist Mathias Binswanger überzeugt. Vielmehr schaffe er ein neues Mittelmass. Der Volkswirtschafter äussert sich kritisch zum Prestigeverlust der Berufsbildung. Plattformen wie die Berufsmesse Zürich seien wichtig, um die Möglichkeiten der Berufsbildung aufzuzeigen.

Bild Mark Gasser

Mathias Binswanger an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

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Mathias Binswanger an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

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Mathias Binswanger an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

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Mathias Binswanger an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

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Mathias Binswanger an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

Wir leben in einer Titelgesellschaft: Viele neudeutsche Titel weisen aber nicht auf eine höhere Ausbildung und mehr Kompetenz hin, sondern bloss auf mehr Mittelmass, sagen Sie. Drohen also Begriffe wie «Akademiker» und «Hochschule» aufgeweicht zu werden und an Profil zu verlieren?

Mathias Binswanger: Genau. Die höhere Ausbildung wird aufgefächert: Zuerst Uni und Hochschulen, dann die ganzen Nachdiplomstudien, die jetzt auch Titel wie «Executive Master» verleihen – aber was heisst das? Das ist kein akademischer Abschluss, aber man versucht, sich mit immer mehr neuen Titeln zu differenzieren.

Gerade in Städten ist der Akademisierungstrend sehr hoch. Warum dieser Stadt-Land-Graben?

Binswanger: Auf dem Land sind Berufsmenschen im täglichen Leben integriert. Man sieht den Landmaschinenmechaniker im Einsatz. Wer in der Stadt arbeitet, sieht immer seltener Menschen, die physisch arbeiten.

In einem «Weltwoche»-Kommentar sprachen Sie über die Chancengleichheit: Der Wunsch nach totaler Chancengleichheit kann nicht erfüllt werden, wenn nicht auch ein Sinken der Ausbildungsqualität in Kauf genommen wird. Erklären Sie das.

Binswanger: Man tut so, als würde mehr Chancengleichheit eine Nivellierung nach oben bewirken, als würde sie alle auf ein vermeintlich höheres Niveau heben. In Wirklichkeit schraubt man aber das Niveau oftmals nach unten. Der Prozentsatz intelligenter Menschen ist ziemlich konstant. Die Menschen zu bilden und zu erwarten, dass sie dann in allen Bereichen besser werden, ist eine Illusion. In ganz vielen Fächern braucht es auch Begabung. Es ist falsch, die Begabungen – zum Beispiel handwerkliche und praktische gegenüber mathematischen – zu werten. De facto kann Chancengleichheit nur erreicht werden, indem das Niveau gesenkt wird. Aber das geschieht heimlich, etwa indem man «harte Fächer» im Curriculum zurückstuft. Aus diesem Grund werden die Titel immer fragwürdiger.

Das ist ein hartes Wort. Sie lehren ja selber an einer Fachhochschule. Machen Sie sich da nicht auch mitschuldig?

Binswanger: Das Problem sind die falschen Anreize, die Bildungsinstitutionen wie Fachhochschulen gesetzt werden. Da diese vom Bund Geld pro Studenten erhalten, besteht ein Anreiz, möglichst viele Studenten zu haben. Da ist die Versuchung gross, das Niveau tendenziell zu senken, um die Zahl der Studierenden zu erweitern.

In der Schweiz ist die traditionell tiefe Maturitätsquote ja am Steigen. Lässt sich der Trend zur Akademisierung noch aufhalten?

Binswanger: Man muss den Wert unseres Systems wieder erkennen. Und im Ausland wird unser duales System tatsächlich vermehrt wahrgenommen. Verschiedene Länder erkundigen sich bei den zuständigen Stellen: Aus den USA kam vor einigen Jahren eine Delegation, China zeigte Interesse an unserem System. Gleichzeitig passen wir uns selber immer mehr dem Ausland an und entwerten so unser eigenes System. Nun geht es darum, das Image wieder zu verbessern und den Berufsstolz zurückzugewinnen. Das ist auch in Deutschland ein Thema: den klassischen Aufstieg vom Lehrling zum Firmenchef wieder zu ermöglichen und entsprechende Beispiele aufzuzeigen.

Der Akademisierungsgrad sagt also nichts über die Qualität der Ausbildungen insgesamt aus.

Binswanger: Nein, sonst wären ganz anderen Länder international führend. Ein hoher Akademisierungsgrad führt zu einem noch elitäreren Bildungssystem. In der Schweiz spielt es bis heute keine grosse Rolle, welche Universität man besucht hat. Im Ausland gilt das meist nicht mehr. Es zählt nur noch ein Abschluss an einer Eliteuniversität. Kann man aber Qualität an einer Durchschnittsuniversität nicht mehr garantieren, ist das ein Problem für den potenziellen Arbeitgeber. Der Titel sagt dann nicht mehr viel aus – der Arbeitgeber muss die Bewerber selbst in Assessments testen, da er nicht mehr weiss, welche Fähigkeiten tatsächlich hinter einem Titel stecken.

Wird das duale Schweizer Berufssystem international zu wenig verstanden?

Binswanger: Ja, aber die Schweiz hat es ihrerseits nicht verstanden, das Bildungssystem zu kommunizieren, damit unsere Abschlüsse akzeptiert werden. Wir sind daher gezwungen, uns anzupassen.

Stichwort Bologna-Reform…

Binswanger: …auch diese sorgte natürlich für weiteren Druck hinsichtlich Akademisierung. Aber gerade in Ländern mit hoher Maturitätsquote schliessen viele das Studium nicht ab. Und weil die Ausscheidenden nicht auf eine praktische Tätigkeit vorbereitet sind, ist da eine hohe Jugendarbeitslosigkeit zu beobachten – so etwa in Finnland.

Sie erwähnten China: Dort scheinen dem Trend zum «Tangping» oder «Flachliegen» – als Protest gegenüber der Leistungs- und Konsumgesellschaft – viele junge Berufsleute zu folgen. Das würde Ihre These bestätigen, wonach das Glücksempfinden vermehrt vom Wohlstand entkoppelt ist.

Binswanger: Dieser Trend ist verständlich. Der Stress ist gross in China. Gleichzeitig sind viele junge Leute in einer Ein-Kind-Familie bereits in Wohlstand aufgewachsen, entsprechend verwöhnt und auch nicht mehr bereit, sich für ein wenig mehr Wohlstand abzurackern.

Das wäre ja positiv, um die Wachstumskurve gerade in und die Abhängigkeit von China etwas abzuschwächen. Sie kritisieren ja gerade den Wachstumszwang der Wirtschaft, und dieser wäre nur mit unternehmerischen Korrekturen zu stoppen. Erklären Sie das doch kurz.

Binswanger: Unternehmen sind in einem Dilemma: Sie müssen wachsen und längerfristig Gewinn erzielen, um nicht Konkurs zu gehen. Das wird für eine Mehrheit der Unternehmen durch Wirtschaftswachstum gewährleistet. Es braucht also mehr erfolgreiche Unternehmen als gescheiterte. Denn die Alternative zu mehr Wachstum ist nicht Stagnation, sondern Schrumpfen – statt einer Aufwärts- also eine Abwärtsdynamik. Man kann allerdings mit geringem Wachstum auch gut leben, wie das Beispiel Japan in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat.

Aber wenn sich der Kapitalismus aus Ihrer Sicht kannibalisiert: welches Modell empfehlen Sie dann?

Binswanger: Den Kapitalismus abzuschaffen, das ist eine Utopie. Denn unser ganzer Wohlstand hängt an diesem System. Doch wir können das Wachstum mässigen. Das funktioniert nicht, solange wir eine Wirtschaft haben, die durch börsengehandelte Unternehmen dominiert ist. Denn diese kommen unter Druck, Shareholder-Value zu schaffen. Wenn der erwartete Gewinn sinkt, weil man andere Ziele verfolgt, sinkt auch der Börsenkurs. Und das führt wiederum dazu, dass man zu einem Übernahmekandidaten wird.
Es bräuchte andere Unternehmensformen, die stärker in Richtung Genossenschaft gehen. Eine Genossenschaft kann auch andere Zwecke als den Gewinn festschreiben, und ein Genossenschafter kann nicht einfach Genossenschaftsanteile verkaufen, weil er das Gefühl hat, anderswo eine höhere Rendite zu erzielen. Das funktioniert ganz gut für kleine Unternehmen, weniger gut für grosse. Da gibt es erhebliche Governance-Probleme und sie verhalten sich de facto wie AGs, Beispiele sind Migros oder Raiffeisenbank.

Aber gerade in der Schweiz, wo 99 Prozent der Firmen KMU sind, wird ja bei einer Mehrheit dieser Unternehmen nicht dem Shareholder-Value nachgelebt.

Binswanger: Ein guter Punkt. Es gibt ja viele nicht an der Bör-
se kotierte Aktiengesellschaften, diese haben in der Tat mehr Freiheiten. Aber natürlich werden sie auch vermehrt integriert ins System als Zulieferer – und vermehrt über Private Equity in dieses Anlageuniversum eingeschleust.
Unabhängig von der Unternehmensgrösse: Das richtige Personal zu finden, ist angesichts des Arbeitskräftemangels eine riesige Herausforderung. Kommt es dadurch nicht automatisch zur erwähnten Abwärtsdynamik und Verlangsamung des Wachstums?
Binswanger: Das glaube ich nicht, das ist eher ein kurzfristiges Problem. Zumal ja durch die ganze Digitalisierung in vielen Bereichen Arbeitsplätze wegfallen werden.

Wird die Digitalisierung also in weniger Arbeitsplätzen und mehr Arbeitslosen münden?

Binswanger: Arbeitsplätze werden sich einfach verlagern. In der eigentlichen Produktion werden immer weniger Menschen arbeiten. Die Fabrikhallen sind ja bereits heute schon fast leer, da trifft man keine Menschen an. Gleichzeitig wird die Wirtschaft immer komplexer, die Bürokratie wächst. Daher arbeiten immer mehr Menschen in der Organisation, Controlling, Evaluation, Zertifizierung – die Beschäftigung verlagert sich in diesen Bereich.

Die Verwaltung wächst entsprechend mit…

Binswanger: Es entsteht eine moderne Controlling-Bürokratie, die gleichzeitig viele Jobs hervorbringt, die manchmal auch als Bullshit-Jobs bezeichnet werden. Das ist das Grunddilemma: Die Menschen suchen nach Sinn in der Arbeit. Viele Tätigkeiten bieten das aber nicht. Die meisten Menschen sind ja nicht leistungsunwillig.

Ist das nicht tragisch, weil Innovation so gebremst wird?

Binswanger: Einerseits ja, anderseits nein: Denn diese Jobs
garantieren ja weiterhin Vollbeschäftigung. Die Wirtschaft wird immer komplexer, weshalb sich immer mehr Menschen mit dieser Komplexität beschäftigen müssen. In der Schweiz bewegt sich die Wirtschaft ja schon lange weg von der Produktion: Entweder die Produktion ist ausgelagert oder automatisiert. Daher müsste man eigentlich von Bruttoinland-Organisation statt -produkt (BIP) sprechen. Dass es in der Schweiz einen Mangel an Ingenieuren und MINT-Berufen gibt, hängt auch damit zusammen, dass das Berufe sind, die viel Fertigkeit und Ausbildung verlangen ohne viel Sozialprestige oder Lohnaussichten zu bieten. Das heisst, man stellt einfach Ausländer an oder verlagert in den Osten.
Das extreme Beispiel ist Luxemburg: Die Luxemburger arbeiten fast alle in der Verwaltung, die eigentliche Arbeit wird an Grenzgänger delegiert. Das bedeutet: man verwaltet eigentlich nur noch den Wohlstand. Dieselbe Tendenz ist bei uns auch zu beobachten. Aber das ist gefährlich, weil so Know-how verloren geht. Auch bei Firmenchefs und Universitäten ist ein immer grösserer Anteil nicht aus der Schweiz. Die lokalen Kräfte auszubilden, wird verpasst, was sich mit der Zeit rächt, da man dann auch die Fertigkeiten verliert. In der Medizin zeichnet sich diese Tendenz schon ab.

Fairerweise muss man sagen: Die Halbwertszeit von Lerninhalten nimmt ab, dafür ist Flexibilität und Agilität angesagt, um mit neuen Entwicklungen umzugehen. Viele Zusatzaus- und weiterbildungen lassen sich so unter «lebenslangem Lernen» oder «Agilität» subsumieren.

Binswanger: Auch da wird viel Pseudowissen vermittelt. Wir glauben, alle Probleme mit Weiterbildung lösen zu können. Das funktioniert aber nicht überall. Sobald es um analytische Fähigkeiten geht, ist die Wirksamkeit von Weiterbildungen und Kursen beschränkt.

Aber ist es nicht verständlich, dass Bildungsinstitutionen in einer komplexen Welt immer mehr in Richtung «Hilfe zur Selbsthilfe» Inhalte vermitteln wollen?

Binswanger: Grundsätzlich ist es richtig und in vielen Fällen eine Chance, sich weiterzubilden. Aber es wird zu viel hineininterpretiert. Wenn ich etwa mit meinen 1,65 Metern Körpergrösse plötzlich ein guter Basketballspieler werden soll, dann ist das eine Illusion, auch wenn ich noch so viele Trainings absolviere. Gerade Berufe im Bereich von Technik oder Informatik verlangen gewisse Fähigkeiten, die sich nicht alle Menschen durch Kursbesuche aneignen können. Aber die Illusion lebt und verleiht natürlich einen gewissen Optimismus.

Die Berufsmesse Zürich, die der KGV veranstaltet, soll ja gerade die Berufslehre und das duale Berufsbildungssystem propagieren. Wie könnte man mit Anlässen besser auf diese hinweisen und ein Umdenken zu bewirken?

Binswanger: Man muss aufzeigen, welche Möglichkeiten man auch mit einer Berufslehre hat. Da stehen einem ja alle Wege offen, etwa die Fachhochschule. Letztere ist ja eines der besten Argumente für eine Berufslehre. Diese ist somit kein Entscheid gegen den akademischen Weg. Das sollte man auch an der Messe aufzeigen, etwa mit Menschen, die Karriere gemacht haben. Und man sollte klarmachen, wie gross die Arbeitslosigkeit ist bei gewissen Studienrichtungen im Gegensatz zu Berufslehren.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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