«Aktuell wird überall gegen unten nivelliert»

Die Schwächen des integrativen Schulsystems, das vor rund zehn Jahren eingeführt wurde, werden immer deutlicher. Die Förderklasseninitiative (lanciert durch FDP, glp und SVP), die mehr Ruhe, Entlastung und angemessenen Unterricht für alle bringen soll, ist auch für KMU relevant und wird daher auch vom KGV unterstützt. Wir sprachen mit drei der Initiantinnen.

Bild Mark Gasser

Christa Stünzi (GLP), Yasmine Bourgeois (FDP) und Anita Borer (SVP, von links).

Bild Mark Gasser

Christa Stünzi (GLP), Yasmine Bourgeois (FDP) und Anita Borer (SVP, von links).

Bild Mark Gasser

Yasmine Bourgeois (FDP), Anita Borer (SVP) und Christa Stünzi (GLP, von links).

Warum ist eine Förderklasseninitiative notwendig und was möchten Sie damit erreichen?

Yasmine Bourgeois: Ich glaube, alle anerkennen, dass wir ein Problem haben in der Volksschule. Wir hatten in den letzten zehn Jahren ein Wachstum der Schülerzahlen von 20 Prozent, bei 80 Prozent mehr Ausgaben. Die Bildung ist aber nicht besser geworden – das zeigt unter anderem das schlechte Abschneiden der Schweiz bei der Pisa-Studie. Kurz: Es wird immer mehr ins System hineingepumpt, aber es kommt immer weniger heraus.

Das klingt nicht sehr aufbauend. Seht ihr euch als Retterinnen eines Überrests an Bildungsqualität in der Schweiz?

Bourgeois: Eigentlich finden wir das Bildungssystem in der Schweiz gut. Aber die Förderklassen braucht es, damit wieder ein bedürfnisgerechterer Unterricht für alle gewährleistet werden kann – sowohl für die integrierten Kinder als auch für die Kinder in Regelklassen. Ziel unserer Initiative ist somit, dass alle eine für sie bestmögliche Bildung geniessen können.
Christa Stünzi: Wir haben heute das Problem, dass Lehrpersonen nicht allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden und damit ihren Grundauftrag nicht sauber erfüllen können, was für sie unbefriedigend und mit Frust verbunden ist. Wenn wir das System der Integration in die Regelklasse im Grundsatz beibehalten wollen, braucht es jetzt Massnahmen, die das System eben entlasten.
Anita Borer: Genau, mit dem Ziel, unser Bildungssystem, unsere Schülerinnen und Schüler bestmöglich auf die Berufswelt und Gesellschaft vorzubereiten. Theoretisch wäre ja gemäss Gesetz die Bildung von Kleinklassen immer noch möglich. Man hat aber die Ressourcen dafür nicht, weil zudem starr festgehalten ist, wie viele Ressourcen für die integrative Förderung aufgewendet werden müssen. Und so besteht zu wenig Flexibilität für die Bildung von Kleinklassen, welche den Schulbetrieb entlasten und die Kosten senken würde.

Es gibt aber bereits Sonderschulen – können Sie den Unterschied zu den geforderten Förderklassen herausstreichen?

Stünzi: Die Beschulung in einer Sonderschule bedeutet immer, ein Kind aus einer Regelklasse, aus dem Regelschulhaus und meist auch aus der Gemeinde heraus in eine Sonderschule zu schicken. Das kann eine Sprachheilschule, eine Kleingruppenschule oder eine heilpädagogische Schule sein. Förderklassen wären das Zwischenmittel, wo die Integration im Regelschulhaus stattfindet.
Bourgeois: Als Lehrerin habe ich das «alte» System auch noch erlebt und relativ früh gesehen, dass der integrative Ansatz nicht funktioniert. Und ich kann heute als Schulleiterin bestätigen, dass ein Zwischengefäss fehlt. Es gibt beispielsweise Kinder, die dem Regelstoff folgen könnten, aber aufgrund ihres Verhaltens in der Klasse nicht tragbar sind. So schiebt man sie oft kurzzeitig in andere Klassen, um sie dann schlussendlich trotzdem in einer externen teuren Sonderschule zu platzieren, obwohl sie vielleicht gar nicht dorthin gehören. Dieser Prozess dauert ewig und ist für keinen befriedigend, am wenigsten fürs Kind. Wenn man so ein Kind in eine Förderklasse integrieren könnte, in der dann auch nach Lehrplan unterrichtet würde, die aber etwas kleiner wäre und in der man dem Kind mehr Zeit widmen könnte, dann wäre allen gedient.
Stünzi: Auch im umgekehrten Fall wären Förderklassen ein Vorteil. Aktuell bleiben Kinder oft länger in Sonderschulen als nötig. Das wird dem Kind nicht gerecht und kostet viel.

«Es wird immer mehr ins System hineingepumpt und immer weniger kommt heraus.»

Yasmine Bourgeois, Schulleiterin und Gemeinderätin Zürich

Wenn viele Personen für den Erfolg eines Kindes verantwortlich sind, ist letztlich niemand mehr richtig verantwortlich. Aber wie viel weniger Lehrpersonen wären denn über die Woche gesehen mit den Kindern tatsächlich beschäftigt, wenn Förderklassen eingeführt würden?

Bourgeois: Wir gehen davon aus, dass es dann ein bis zwei Lehrpersonen pro Förderklasse bräuchte. Aber das haben wir so genau nicht definiert.
Stünzi: Das kann man auch nicht genau beziffern. Es gibt ja Lehrpersonen, Teamteaching, Klassenassistenzen, all die Therapien wie Logopädie oder Psychomotorik. Für die Kinder, die in der Regelklasse überfordert sind, wird ein möglichst grosses Setting aufgebaut, um das Kind aufzufangen, bevor es doch in einer Sonderschule extern beschult wird. So gibt es heute Kinder, die in der Sonderschule am falschen Ort sind, weil die Gemeinden keine andere Lösung haben.
Borer: Unsere Initiative will auch einen Ansatz schaffen, um das ganze System zu vereinfachen. Es sollten auch in der Regelklasse weniger Lehrpersonen benötigt werden. Das Thema Kleinklassen habe ich bereits in einem Vorstoss 2013 thematisiert. Aber damals wollte man den eingeschlagenen Weg weitergehen. Jetzt aber ist die Zeit reif, das Thema trifft auf mehr Akzeptanz, und viele finden: So funktioniert es nicht.

Der KGV unterstützt Sie, die Initiantinnen der Initiative, mit einer Versandaktion und Unterschriftenbögen in dieser Zeitung. Glauben Sie, bei der Stimmbevölkerung offene Türen einzurennen und die Unterschriften schnell zu sammeln?

Bourgeois: Der Start war schwierig. Das hat grundsätzlich damit zu tun, dass wir keinen Verband hinter uns haben, der uns grosszügig unterstützt – mit Ausnahme des KGV. Wir sind dem Verband daher unendlich dankbar. Aber auf der Strasse trifft das Anliegen absolut auf Resonanz. Am Samstag war ich auf der Strasse, da genügte es, das Stichwort «Kleinklassen» fallen zu lassen, und schon waren sie bereit, zu unterschreiben. Vielen ist allerdings der Begriff «Förderklassen» nicht geläufig. Aber wir nannten die Initiative bewusst Förderklasseninitiative, um nicht den Eindruck zu erwecken, wir wollten zum alten System zurück. Bei den früheren Kleinklassen gab es kaum Durchlässigkeit.

«Unsere Initiative will auch einen Ansatz schaffen, um das ganze System zu vereinfachen.»

Anita Borer, Kantonsrätin SVP

Sie sprechen in Ihrer Initiative von Pflästerlipolitik, mit der man einem schon länger schwelenden Problem begegnet. Ist ein grosser Reformwurf zu wenig sexy, oder überfordert das die Politik?

Stünzi: Ich würde sagen, die Komplexität des Bildungssystems ist so gross, dass viele Hemmungen vor einer grossen Reform haben. Man versucht, im Kleinen – da, wo es gerade brennt – zu löschen. Ob das «Pflaster» dann am richtigen Ort angebracht wurde, sieht man immer erst mittelfristig. Unsere Initiative ist jetzt auch nicht die ganz grosse Veränderung, aber sie ist eine Möglichkeit, um einmal etwas globaler hinzuschauen. Es ist halt ein ewiger Streitpunkt: Integration versus externe Beschulung. Und die Initiative bietet etwas dazwischen. Sie will die beiden nicht gegeneinander ausspielen, sondern ein in sich funktionierendes durchlässiges System stützen.

Eine Schlagzeile könnte heissen: «Der Zeitgeist fegt auch die Schulnoten weg.» Könnte Ihre Initiative den Schulexperimenten Einhalt gebieten?

Bourgeois: Wir hoffen es. Denn aktuell wird überall gegen unten nivelliert: Gerade wegen der Integration hat man in der Volksschule die Tendenz, überall zu verbergen, wer wie gut ist. Das sieht man auch bei den schulischen Sporttagen. Man versucht, beispielsweise bei der Teambildung, möglichst den Faktor Konkurrenz auszuschalten. Oder die Leistung mit «Sünneli» oder «Sternli» auszudrücken. Man soll nicht gestresst sein, wenn man nicht so gut ist. Aber dieser Stress lässt sich doch mit keinem Ersatzsystem vermeiden. Die Kinder realisieren sehr wohl, wenn sie weniger oder mehr Punkte machen als andere «Gspänli» . Und das ist im Leben ja auch normal. Man wird überall gemessen und beurteilt.
Borer: Viele Unternehmen sind vom sinkenden Bildungsniveau betroffen. Die Schule muss die Schüler für die Berufswelt vorbereiten. In einem Wettbewerb zu bestehen, auch eine Frusttoleranz zu entwickeln, gehört mit dazu.
Stünzi: Es gab auch einen Vorstoss im Kantonsrat, bei dem es um Noten ging. Ich habe da gesagt: Wir leben in einer Welt, in der überall benotet wird – teilweise auch online. Von der Taxifahrt bis zum Restaurant werden ständig Bewertungen abgegeben. Wir müssen die Kinder auf die Realität vorbereiten. Wenn Lehrpersonen nicht diese unglaublichen Koordinationsaufwand leisten müssten, dann hätten sie wieder Kapazitäten für Coachinggespräche, um die Noten einzuordnen und das Kind auf die Prüfungssituation vorzubereiten.

Geben Sie mit der Förderklasseninitiative den Lehrern anstelle lehrmethodischer Direktiven und enger operativer Vorgaben mehr Freiheit zurück, welche die Leidenschaft für das Pädagogische nährt?

Borer: Das ist die Hoffnung. Gerade wenn man über Fachkräftemangel diskutiert. Der Lehrerberuf ist etwas Schönes, und viele machen es aus Leidenschaft. Aber wenn der Aufwand darum herum viel grösser wird, und das Unterrichten nicht mehr im Zentrum steht, dann kann diese Berufung nicht mehr gelebt werden. Der Lehrplan 21 hat 500 Seiten und ist so ein mächtiges Instrument, das die Lehrer verinnerlichen sollen. Lieber die Bürokratie und Administration vereinfachen, dafür die Entfaltung vermehrt in den Vordergrund stellen.
Stünzi: Ich erlebe das bei Lehrerinnen in meinem Umfeld, dass sie mehr Zeit investieren müssen in Organisatorisches, Koordination, Absprache mit Hilfspersonen. Die Möglichkeit, sich ums einzelne Kind zu kümmern, kommt dabei zu kurz, und es löst Stress und Frust aus, wenn man merkt: Ich kann meine Berufung nicht ausleben.

Würde sich der grassierende Lehrermangel bei der Wiedereinführung von Kleinklassen, die wiederum höhere Pensen erfordern, nicht verschärfen?

Bourgeois: Wenn das Umfeld wieder weniger kompliziert wäre und es weniger Koordinationsaufwand durch Absprachen gäbe, wären mehr Lehrer auch eher bereit, mehr zu arbeiten. Jetzt sind sie schlicht ausgebrannt. Und das wird ihnen auch an der pädagogischen Hochschule so vermittelt: Arbeitet besser nicht 100 Prozent! Als Schulleiterin erfahre ich das ja bereits bei Einstellungsgesprächen: Da wird sofort nach Klassenassistenzen gefragt. Sie kommen schon so getriggert! Wenn wir das System wieder beruhigen könnten, würden auch automatisch mehr Energie und Kapazitäten frei, um mehr zu arbeiten.
Borer: Ich wollte selber einmal Lehrerin werden und machte berufsbegleitend eine Teilausbildung. Doch ich merkte, dass man viel mehr mit dem Schulumfeld beschäftigt ist als mit dem Schulunterricht und den Inhalten selber.

«Lehrpersonen können heute nicht mehr allen gerecht werden.»

Christa Stünzi, Kantonsrätin GLP

Sind die steigende Maturitätsquote und die steigende Zahl Jugendlicher, die eine Ausbildung an einer Uni oder an einer Fachhochschule absolvieren, nicht ein Erfolgsausweis für die moderne Schule?

Borer: Ich sehe es anders. Wir sind ja ein Land der KMU. Und viele KMU-Unternehmer sind keine Akademiker, und das ist auch gut so. Das brauchen wir auch, um wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben. Ich finde, wir werden im Ausland gerade für unsere Berufsbildung, die auch eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit zur Folge hat, beneidet. Meine Geschwister haben eine Berufslehre gemacht, ich kam über den gymnasialen Weg in die Berufswelt. Ich fand es toll, dass meine Geschwister so früh mit der Arbeitswelt in Berührung gekommen sind. Das System ist ja so durchlässig, dass man auch später noch eine akademische Ausbildung machen kann.

Die Durchlässigkeit zwischen Förderklassen und Regelklassen soll gewährleistet sein. Was heisst das?

Bourgeois: Die Lehrerin oder der Lehrer merkt ja, wo ein Kind steht, und kann dann abschätzen, ob eine Rückkehr möglich ist. Feste Vorgaben haben wir aber keine gemacht, die Ausgestaltung muss man dem Kantonsrat überlassen. Ich denke, dass man da pragmatisch vorgehen kann und ein Kind dann in die Regelklasse zurückschickt, wenn man sieht, dass es dafür bereit ist. Um aber ein Kommen und Gehen zu verhindern, haben wir «semesterweise» in der Initiative niedergeschrieben.

Anita Borer, Sie haben kürzlich mit zwei Mitunterzeichnenden eine entsprechende Motion «Regelklassen wirksam entlasten» eingereicht. Motionen werden oft parallel zu einer Initiative lanciert. Wozu diese?

Borer: Das Thema ist seit einiger Zeit salonfähig geworden. Wenn die Initiative zustande kommt und zudem der Kantonsrat die Motion überweist, erhält unsere Initiative mehr Stosskraft.
Mit der Motion gehen wir noch mehr auf gesetzliche Grundlagen ein. Zudem halten wir fest, dass die Gemeindeautonomie gewahrt werden soll. Es muss möglich sein, auf die gemeindespezifischen Unterschiede einzugehen und entsprechende Lösungen zu finden.

Die Umsetzung der Initiative soll ohne finanzielle Mehrbelastung von Kanton und Gemeinden erfolgen. Aber wird das nicht teurer allein durch die zusätzlich benötigten Klassenräume?

Bourgeois: Man bräuchte sicher weniger Personal, wenn man die ganzen Klassenassistenzen heute mit einrechnet und einen Teil der Ressourcen in den Förderklassen zusammenfasst. Dazu kommt: Jene Kräfte, welche die Integra-tion beibehalten wollen, verlangen ja sogar noch mehr Ressourcen. So würde das integrative Modell nur noch teurer werden.
Borer: Es hiess ursprünglich, dass die Kosten mit dem integrativen Unterricht auf Gemeindeebene stetig sinken würden. Das Gegenteil ist der Fall: Weil eine niederschwellige Massnahme fehlt, werden auffällige Kinder letztlich ganz separiert und in eine externe Sonderschule geschickt. Dies kostet sehr viel und ist schwierig zu budgetieren. Mit der Möglichkeit, diese Schulkinder vorübergehend in Kleinklassen zu schulen, könnten die Kosten minimiert werden.
Stünzi: Als Schulpflegerin in Horgen zeigte mir meine Erfahrung: Das heutige System, bei dem man gezwungen ist, zwischen dem einen und dem anderen zu entscheiden, stösst an seine Grenzen. Von Einzelfällen weiss ich, dass man sie schon in drei Klassen versetzen musste – bis hin zur letzten Möglichkeit, der Einzelbeschulung, wenn nicht sofort ein Platz frei wird in Sonderschulen. Diese nach Gesetz als «Sonderfall» ausgewiesenen Fälle kommen viel häufiger vor, als man ahnt. Zudem sind diese Kosten für die Sonderschulungen nirgends budgetiert, für die Gemeinden aber oft sehr hoch. Sie würden mit Förderklassen fortan wegfallen.

Wird nicht mehr teurer Schulraum nötig sein?

Borer: Nach meiner Einschätzung bräuchte es maximal eine Kleinklasse pro Schulhaus. Ausserdem bauen die Gemeinden heute die Schulhäuser mit Gruppenräumen. Flexible Bauten sind in den Gemeinden auch Thema. So glaube ich, lassen sich mit dem vorhandenen Schulraum Lösungen finden.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

Ihre Meinung ist uns wichtig

Das Thema ist wichtig.

icon_thumbs_up
icon_thumbs_down

Der Artikel ist informativ.

icon_thumbs_up
icon_thumbs_down

Der Artikel ist ausgewogen.

icon_thumbs_up
icon_thumbs_down

Anzeige