Sitzen ist die neue Volkskrankheit
Langes Sitzen verursacht gesundheitliche Probleme und kostet Unternehmen Milliarden. Ergonomische Lösungen und mehr Bewegung könnten Abhilfe schaffen.
20. Februar 2025 Gerold Brütsch-Prévôt
Richtiges Sitzen ist auch im Homeoffice wichtig.
Homeoffice hat seine Tücken: Arbeiten am Küchentisch oder sitzend auf dem Sofa mit dem Laptop auf den Knien ist nicht gerade förderlich für das körperliche Wohlbefinden. Rückenschmerzen, Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich, Kopfschmerzen und Müdigkeit sind die häufigsten Symptome. Ganz abgesehen davon, dass man sich auch ausserhalb der Arbeitszeit mehr bewegen sollte. 180 Minuten Bewegung pro Woche sind laut dem Bundesamt für Gesundheit nötig, um gesund zu bleiben. Und wer nicht auf der Baustelle körperliche Arbeit verrichtet, sollte Bewegung auch in den Büroalltag einbauen.
Mit Training ausgleichen
«Körperliche Inaktivität fördert eine stille Entzündung, die leise im Körper vieler Menschen schlummert und in den meisten Fällen lange unbemerkt bleibt. Dieser von der Wissenschaft ‹Inflammaging› genannte Vorgang erhöht mit zunehmendem Alter die Gefahr für Folgekrankheiten wie Arteriosklerose, Zuckerkrankheit, Demenz und auch Krebserkrankungen», sagt Dr. med. Richard Biggoer von der NOW! Training + Therapie AG in Uster. Da gehöre natürlich das Sitzen am Arbeitsplatz auch dazu. Dagegen könne man aber aktiv etwas unternehmen. Richtiges Training und ein gesunder Lebensstiel aktivieren das Immunsystem, hemmen Entzündungen und wirken nachhaltiger als jedes Medikament. Wer also den ganzen Tag sitzt, sollte ins Training, auf den Vitaparcours, alle Rolltreppen meiden und auf Kurzstrecken im Tram oder im Zug besser stehen.
Ungenügendes Mobiliar
Aber auch ungenügendes Mobiliar, nicht nur am Arbeitsplatz, ist mitschuldig an vielen krankheitsbedingten Ausfällen in den Firmen. Die Suva rechnet in der Schweiz mit rund 15 Prozent aller Arbeitnehmenden, die durchschnittlich drei Tage pro Jahr fehlen. Und das nicht, weil sie sich verletzen, beim Kopieren die Finger einklemmen oder über einen losen Teppich stolpern. Am Sitzen liegt’s. Das kostet die Wirtschaft gegen zwei Milliarden Franken. Fachleute gehen davon aus, dass sich dieser Betrag mit kleinen Investitionen in die Büroausstattung um bis zu 50 Prozent reduzieren liesse.
Das bestätigt auch Patrick Baur, Geschäftsführer von MeFirst-Büroeinrichtungen in Zürich. Für ihn ist Ergonomie das Erfolgsrezept für das Wohlbefinden im Büro. «Langes Sitzen erhöht das Risiko für Verspannungen und Rückenschmerzen und kann zu Bandscheibenvorfällen beitragen. Auch andere Beschwerden, etwa in Knien, Becken, Nacken oder Rücken, können durch jahrelang falsches Sitzen entstehen», ist er sicher.
Unterschiedliche Sensibilität
Und wie sensibel sind Arbeitgeber und insbesondere das Gewerbe und Kleinbetriebe gegenüber dem Thema Ergonomie am Arbeitsplatz? «Die Sensibilität ist sehr unterschiedlich. Häufig hängt es vom Tätigkeitsbereich ab, noch stärker aber vom Management. Wenn Mitglieder der Geschäftsleitung selbst von Schmerzen oder Beschwerden betroffen sind, hat das oft positive Auswirkungen auf das gesamte Team. Insbesondere in kleineren Betrieben oder im Gewerbe kommt das Thema oft erst aufs Tapet, wenn konkrete Probleme auftreten oder Mitarbeitende darauf pochen», sagt Baur.
Desksharing weniger individuell
Gerade in grossen Unternehmen werden persönliche Arbeitsplätze immer mehr abgeschafft. Um leer stehende Pulte in den Büros zu vermeiden, gestalten viele Firmen ihre Räumlichkeiten um. Wenn der Arbeitsplatz geteilt werden muss, kann er von den Mitarbeitenden nicht mehr individuell angepasst werden. Wird so der massgeschneiderte ergonomische Arbeitsplatz zur blossen Theorie? Nur teilweise, sagt Patrick Baur. «In vielen Desksharing-Konzepten sind elektrisch höhenverstellbare Tische mittlerweile Standard. Damit kann jede Person die Tischhöhe individuell anpassen, was die Gesamtsituation deutlich verbessert. Ohne solche Tische wäre Desksharing eher fragwürdig. Beim Bürostuhl wird es schwieriger. Viele kennen die Einstellmöglichkeiten nicht, oder Stühle passen den Anpressdruck automatisch an, was nicht immer ideal funktioniert. Jede Person hat andere Proportionen und braucht daher eine individuelle Einstellung.»
Auch Homeoffice anpassen
Auch Homeoffice-Worker tun also gut daran, einmal kritisch die häuslichen Arbeitsbedingungen zu überprüfen. Ein professioneller Bürostuhl ist schon mal ein guter Anfang für alle, die länger sitzen. Doch was heisst gut? Die Suva empfiehlt Stühle mit einer gewissen Grundausstattung – dabei soll man sich nicht von möglichst vielen Hebeln und Verstellmöglichkeiten blenden lassen. Zur Grundausstattung gehören ein Fünf-Stern-Fuss, ein Höhenverstellungsbereich, der zur Körpergrösse und zur Arbeitshöhe passt, eine höhen- und neigungsverstellbare Rückenlehne und ein gut geformter Sitz mit einer bequemen Polsterung.
Aber auch der beste Stuhl kann Probleme durch zu langes Sitzen nicht verhindern. Zwischendurch ist also Bewegung angesagt. Und wenn man keine Zeit hat, rund ums Haus zu joggen, sollte man mindestens die Position ändern und aufstehen. Auch für das Homeoffice – vor allem, wenn es zum festen Bestandteil des Arbeitslebens wird – lohnt sich die Anschaffung eines Sitz-/Stehtisches. Die positiven Effekte sind ungefähr ähnlich wie beim ergonomischen Stuhl – sie betreffen allerdings mehr die Durchblutung und Motorik und tragen zur allgemeinen Muskelentspannung bei.
Gerold Brütsch-Prévôt
Redaktioneller Mitarbeiter Zürcher Wirtschaft
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