Er liest nicht, er lebt Zeitungen

Aufgewachsen ist er mit Druckerschwärze an den Händen, Zeitungen haben ihn immer schon fasziniert: Der Zürcher Zeitungssammler Werner Steiner schaut die «Zürcher Wirtschaft» mit Bewunderung und Kritik an. Und bricht eine Lanze für Printprodukte.

Bild Mark Gasser

Zeitungssammler und -nostalgiker Werner Steiner mit der «Zürcher Wirtschaft».

Vor einigen Wochen traf die kuriose Anfrage des 73-jährigen Werner Steiner auf der Redaktion der «Zürcher Wirtschaft» ein: «Seit vielen Jahren sammle ich aus allen Ländern gedruckte Zeitungen aller Art. So auch aus der Schweiz. Es sind mittlerweile über 3600 Exemplare. Ihre «Zürcher Wirtschaft» fehlt mir leider noch. Sie ist in Zürich nicht erhältlich. Immer wieder hört und liest man, dass Verlage gedruckte Tages-, Lokal- und/oder Regionalzeitungen einstellen wollen. Oder, dass sie nur noch digital angeboten werden.» So bat er darum, zur Vervollständigung seiner Sammlung eine gedruckte Ausgabe der «Zürcher Wirtschaft» zu schicken, «bevor es zu spät ist».

Bei Werner Steiner ist es wohl angemessen zu sagen, dass er Zeitungen nicht liest, sondern: dass er sie lebt. Beruflich gross geworden in einer Zeit, in welcher die Print-Welt noch in Ordnung war und die Zeitungen zu 80 Prozent von den Inserateeinnahmen lebten, scheint der Vollblut-Typograf diese auch ein wenig zu romantisieren.

«Die Verlage haben sich bei verschiedensten Druckprodukten selber ein Ei gelegt, indem sie ihre Inhalte gratis im Internet zur Verfügung stellten», so Steiners gnadenlose Analyse. Er vergleicht die rasante Entwicklung des Internets und des unkontrollierten, rauschhaften, ziellosen Konsums mit dem Fernsehen: «Erst übten alle Konsumkritik, erst viel später merkte man, wie man konsumieren musste», so Steiner. Genauso mit dem Internet und aktuell mit der künstlichen Intelligenz: Alle erlagen dem Produkt oder der Technologie, aber keiner wusste, wie sie am besten zu nutzen waren.

Zeitungen aus aller Welt

Zurück zu Steiners riesiger Zeitungssammlung. Was macht er damit? Akribisch notiert, nummeriert und katalogisiert er die Titel in einem Sammelband. «Nur die ersten zwei Doppelseiten des ersten Bunds behalte ich jeweils. Das reicht schon.» Der Inhalt interessiere ihn weniger. «Ich kann ja nicht Japanisch oder Indisch.»

Aufgewachsen ist Steiner bereits mit Druckerschwärze. Sein Vater war Buchdrucker und Grafiker, seine Mutter Buchbinderin. Als gelernter Setzer arbeitete auch er im Druckwesen. Bis zu seiner Pensionierung war Steiner 15 Jahre lang als AV-Techniker bei der Zürcher Hochschule der Künste. Zwischendurch führte er in den 1980er Jahren auch einen Marronistand, später war er immer wieder als AV-Techniker und in anderen Jobs tätig, etwa als Tonoperateur bei Cinegroup, bei Migros oder beim Fernsehen.

Seine Sammelleidenschaft gründet bei seiner Zeit im Catering bei Swissair von 1983 bis 2000. Weil den Passagieren Gratiszeitungen und Zeitschriften verteilt wurden, kam er in Kontakt mit zahllosen Titeln aus aller Welt. «Wir mussten in den Flugzeugen die «New York Times», die «L.A. Times» oder die «Chicago Tribune» verteilen, aber natürlich auch viele europäische Zeitungen.»

Mit der jeweils ersten Doppelseite des ersten Bundes, die er aufbewahrt, liessen sich die wichtigsten Informationen einer Zeitung herauslesen: die Aufmachung und Erscheinung sowie die Druckqualität. Ganz alte Kriegsausgaben der finnischen «Turun Sanomat» aus dem Jahr 1941 – seine Frau ist Finnin – zieren seine Sammlung sowie Zeitungen aus Asien, Süd- und Nordamerika, Afrika sowie dem Nahen und Fernen Orient. Gewerbezeitungen habe er in den letzten Jahren vermehrt entdeckt. Und davon gibt es viele – auf kantonaler, Bezirks- und lokaler Ebene.

Grafische Fehlgriffe

Um 2020 hätten viele Verlage begonnen, ihre Zeitungen neu zu gestalten. Mittlerweile sähen alle praktisch gleich aus. Grafikbüros kopierten sich gegenseitig – oder reproduzierten ihre eigenen Ideen. Er sieht einen Trend zum Schwund: Es würden dünnere Schriften gewählt, «die oft gar nicht lesbar sind». Zwischenzeitlich kaprizierten sich einzelne Zeitungen darauf, ihre Titel in der Mitte der Front zu platzieren – so etwa die «Schweizer Illustrierte» oder die «NZZ am Sonntag». «Am Kiosk hat sie kein Mensch mehr gesehen.» Das wurde mittlerweile wieder korrigiert. «Ein Produkt hat einen Titel oder es hat keinen. Der darf nicht zuunterst kommen. Man beginnt oben links zu lesen. Wir sind ja nicht in Japan», so Steiner.

Aktuell beobachtet er bei den Zeitungen gestalterisch einen Rückwärtstrend – aus Sicht der Leserführung. Mit farbigen Elementen versuchten viele Titel, sich gegenseitig auszustechen. So würden weisse Schriften in einem hellblauen Hintergrund gewählt, ohne zu bedenken, dass die Lesbarkeit am Bildschirm trotz Simulation nicht der gedruckten Zeitung mit der grauen Papierfarbe entspricht. So sei weisse Schrift vor hellblauem Hintergrund eine Farce fürs Auge. Und manchmal würden drei, vier verschiedene Schriftarten in einem Text verquickt. «Das Hirn erlaubt das nicht.»

Bei der «Zürcher Wirtschaft», die er mehrheitlich lobt («Ich finde sie schön, wenn ich sie so durchblättere»), stört ihn unter anderem der «Kopf» (der Freisteller) oben rechts auf der Frontseite – der Titel hänge durch dieses gestalterische Element zu weit unten, was oben viel Weissraum übrig lasse. Und dadurch, dass die Zeitung unten auch relativ viel Weissraum aufweist (was aus postalischen Gründen unvermeidbar ist), «erscheint sie etwas zusammengedrückt».

Gewerbe- und Verbandszeitungen beklagten sich vermehrt darüber, dass sie ein Problem mit den Inserenten hätten. Diesen Titeln, aber auch deren Kunden werde oft zu wenig klar, dass die Zeitung wirklich gelesen werde. Deshalb sei das Problem mit der Abwanderung ins Internet, wo alles messbar ist, hausgemacht. «Print ist eine der besseren Reklamen, wenn man Werbung für ein Produkt machen will», ist Steiner überzeugt. Auf einer Zeitungsseite habe man alles im Blick, ohne erst nach unten zu scrollen oder mit Cookies und blinkenden Buttons überflutet zu werden. «Ein Klick heisst noch lange nicht, dass etwas gelesen wird.»

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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