«Schlaf kenne ich schon lange nicht mehr. Aber das ist Wahlkampf.»

Der Wahlkampf findet vermehrt digital statt. Mit wenig Geld lässt sich viel Reichweite generieren – aber das kann auch an die Substanz gehen. Genauso spielt aber der analoge Wahlkampf eine Rolle. Agenturen wie campaigneers oder BERTA sind darauf spezialisiert, Kandidierenden oder Verbänden die Rezepte in die Hand zu geben, um sich den richtigen Wahlkampfcocktail zu mixen.

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Handy und Laptop statt Wahlkampfbüro: Nadine Dünner von campaigneers.

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Nadine Dünner von campaigneers in ihrem mobilen «Büro»: Am Laptop in der «Kleinen Freiheit» zwischen Central und ETH in Zürich.

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«Fart to start»: Janick Tagmann von BERTA Kommunikation.

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Nähe, Authentizität, Angriffsfläche und Verletzlichkeit sind nahe zusammen: Tanja Herrmann kennt die Tücken des Influencer Marketing.

In Zeiten von Remote Work und Co-Working lebt ein junges Campaigning-Team vor, wie ein Wahlkampf «auf Achse» aussehen kann. «Der Laptop ist mein Büro. Da ist alles drauf, was ich für den Wahlkampf brauche», sagt Nadine Dünner. Sie arbeitet für campaigneers, eine der vielen Agenturen mit politischer Stossrichtung im Kanton Zürich, die jetzt im Wahlkampf besonders gefragt sind. Dass sie die «Kleine Freiheit» zwischen Central und ETH Zürich sozusagen als Homebase wählt, ist kein Zufall – schon eher Zufall ist der sehr dem Freisinn schmeichelnde Name der mobilen Baracke, die unter anderem aus einem Container und Holzelementen zusammengeschustert ist. Denn wer hier eine FDP-Denkzentrale erwartet, erkennt schnell (etwa an den Aufklebern auf der Toilette), dass hier eher der Klassenkampf gegen das Establishment zelebriert wird als der Freisinn. «Es ist einfach zentral gelegen, vom Vibe her noch angenehm – und das Wifi funktioniert immer», erklärt Dünner, die das Lokal aus ihrer Zeit an der ETH kennt. Dem jungen, zehnköpfigen Startup campaigneers AG seien eben nicht schöne Büros, sondern die Mobilität wichtig – und die Menschen, die sie politisch beraten. «Wir arbeiten im Co-Working, gehen zu unseren Kunden hin, und wenn sie unterwegs sind, gehen wir mit. Dann muss man alles auf dem Laptop dabeihaben.»

«Der Laptop ist mein Büro. Da ist alles drauf, was ich für den
Wahlkampf brauche.»

Nadine Dünner,
Senior Campaign Manager, campaigneers AG

Um einen Wahlkampf am eigenen Leib zu erleben, hat sich die Kommunikations- und Politikwissenschafterin für die letzten Gemeinderatswahlen in Zürich selber aufstellen lassen – damals ohne Wahlchancen. «Ich wollte wissen, wie es ist auf der Kandidatenseite.» Sie habe dann auch Plätze gewonnen. Doch jetzt kämpft sie mit Herzblut für andere – und für jedes Like. «Schlaf kenne ich schon lange nicht mehr», meint sie bei unserem Gespräch. «Aber das ist Wahlkampf.»

Startupgründer Marcel Schuler und Nadine Dünner haben beide einen FDP-Hintergrund: Er war einst Kampagnenleiter bei der FDP Schweiz, sie war Social-Media-Verantwortliche und Fraktionssekretärin der FDP Kanton Zürich. So kannten sie das Netzwerk und die parteiinternen Gepflogenheiten und Module für einen Wahlkampf. Ihre Stärken sieht sie daher besonders im Online-Wahlkampf – um diesen kommt heute niemand herum. «Dadurch ziehen wir auch Kandidierende an, die dort einen starken Wahlkampf machen wollen.» Einer von ihnen ist auch Regierungsratskandidat Peter Grünenfelder.

Bibel für Kampagnenneulinge

Bei Schulungen für Neulinge hilft die interne Bibel fürs strukturierte Vorgehen: Das «Campaign Playbook» mit Informationen zum richtigen Vorgehen von der Lageanalyse über die Planung hin zur Umsetzung, mit Tipps zum Aufbau eines Netzwerks, den richtigen Strategien, Medien und dem richtigen Zeit- und Eventmanagement in den jeweiligen Wahlkampfphasen.

Was machen denn nun die Finessen, den Content eines erfolgreichen Wahlkampfs aus? Die Antwort ist unbefriedigend, denn: Es kommt drauf an. Die Zielgruppen sind heute stärker individualisiert, verzettelt, auf vielen Plattformen unterwegs – und auf diesen wirkt nicht jeder Inhalt gleich. Der Massnahmenmix basiere auf zentralen Fragen wie: Wie viel Budget habe ich? Wen möchte ich erreichen? Wie erreiche ich diese Personen am besten?

In der Regel sind ältere Kandidierende wenig auf den sozialen Medien präsent, investieren vermehrt in Plakate oder Standaktionen. Sie bewundert daher umso mehr Polit-Dinosaurier wie das bayrische FDP-Landtagsmitglied Wolfgang Heubisch (76) oder das ehemalige Bundestagsmitglied Thomas Sattelberger (73). Sie schaffen es, komplexe Inhalte kurz – teilweise ohne Worte – und adressatengerecht auf TikTok aufzubereiten. Trends erkennen, filmen und das Bearbeiten bei Videoformaten absorbiere aber viel Zeit. «Wenn du die Zeit oder das Wissen nicht hast, mach es lieber nicht, als es schlecht zu machen», rät Dünner.

Auch bei politisch mittlerweile häufiger als vor vier Jahren genutzten Plattformen wie Instagram liegt in der Kürze die Würze: Die Aufmerksamkeitsspanne, um zu entscheiden über Weiterklicken oder Verweilen, schätzt man in der Branche bei 1,2 bis 3 Sekunden ein. «In dieser Zeit muss man die Leser davon überzeugen, auf dem Post oder Video zu verweilen», so Dünner. Und ein Zauberwort des Massnahmenmixes: «Man benötigt heute mehr Touch Points als noch vor vier Jahren.» Früher reichten als Berührungspunkte Plakate, Flyer und noch das analoge Kennenlernen an einem Anlass. campaigneers streben über die Kampagne aktuell zwölf solcher Berührungspunkte – also zwölfmal soll man mit der Zielperson in Kontakt kommen. Dieses «Bekanntwerden» sei idealerweise ein Prozess, der sich über ein Jahr hinziehe.

Inhalte: Je später, desto knapper

Ein weiteres wichtiges Grundprinzip des Campaignings: «Je weiter der Wahlkampf fortgeschritten ist, desto kürzer und einprägsamer sollten die Botschaften für die Mobilisierung werden», sagt Janick Tagmann, Geschäftsführer der Agentur BERTA Kommunikation, welche für die Kampagne «Unternehmer-waehlen.ch» des KMU- und Gewerbeverbands Kanton Zürich (KGV) verantwortlich ist. Die kurze Aufmerksamkeitsspanne verlange nach Zuspitzung, doch müsse man aufpassen, «dass die eigenen Botschaften aussagekräftig bleiben und nicht auswechselbar sind.» Zudem dürften Inhalte nicht verfälscht werden. «Wenn dir hier ein Fehler als PR-Agentur widerfährt, wird das von Journalisten intuitiv als bewusste Verbreitung von Falschinformation und Mutwilligkeit ausgelegt.»

Bei der Wahlkampagne des KGV musste der Spagat zwischen einem sehr heterogenen Unternehmer-Parteienspektrum einerseits und einem gemeinsamen Nenner, einer einprägsamen Dachbotschaft («Streichen. Panaschieren. Kumulieren.») andererseits gelingen, um wegzukommen von der reinen Partei- zur Personenwahl. «Wir suchten bei den Sujets eine klare Bildsprache: Einprägsam, überraschend sollte sie sein, aber auch einen Wiedererkennungseffekt haben», so Tagmann zu den filmischen Einspielungen. Das positiv besetzte Bild der KMU, die jeden Tag Verantwortung übernehmen, Arbeitsplätze und Wertschöpfung schaffen, sollte mit den Einspielungen aus der KMU-Welt unterstrichen werden. Die Kandidierenden wurden im aktuellen Wahlkampf bezirksweise gebrieft, um nach dem Aufbau der Dachkampagne selbständig Inhalte zu verbreiten.

«Je weiter der Wahlkampf fortgeschritten ist, desto kürzer und einprägsamer sollten die Botschaften für die Mobilisierung werden.»

Janick Tagmann
Geschäftsführer BERTA Kommunikation

Der gewählte Mix aus Massnahmen, Anlässen und Medienkanälen für eine politische Kampagne könne sich aber sehr unterscheiden: «Es kommt auf das Thema, die Absender und natürlich die Budgetgrösse an», so Tagmann. Früher hätten grosse Verbände mit ihren Dachbotschaften auf Plakaten «die Schweiz zugepflastert». Doch gerade bei überparteilichen Konsenslösungen oder wenn mehrere Organisationen beteiligt seien, sei es sehr schwierig, eine prägnante Botschaft zu finden, die alle dann auch unterstützten. Er rät in diesem Fall, die verschiedenen Zielgruppen durch unterschiedliche Akteure, Botschaften und Massnahmen zu erreichen.

Eines der grössten Erfolgsgeheimnisse für Kandidierende aus seiner Sicht: Bediene möglichst früh deine Socials, sei bereits vor Bekanntgabe deiner Kandidatur präsent – und nutze die Zeit zwischen zwei Wahlen, um deine Reichweite weiter auszubauen. Bei immer kleinerer Aufmerksamkeitsspanne und immer grösserer Kakofonie im Netz, soll die eigene Botschaft früh und laut platziert werden: «Fart to start», fasst es Tagmann zusammen. Als Vorbilder erachtet er FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt oder den Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. Praktisch jeden Tag auf Social Media präsent, verbreiteten sie Newsletter, einprägsame Geschichten aus dem Polit-Alltag, aber auch Privates.

Print sei trotz allem immer noch ein legitimes Mittel, um gewisse Zielgruppen – und potenzielle Urnengänger – zu erreichen. Viele Faktoren können die Wahl der Kanäle beeinflussen. Je kleinräumiger und ländlicher der Bezirk etwa sei, desto wichtiger sei es, physisch statt nur digital präsent zu sein. «Der Vorteil am Online-Wahlkampf ist allerdings, dass man mit verschiedenen sogenannten Target Audiences interagieren und mit relativ kleinen finanziellen Mitteln unterschiedliche Gruppen erreichen kann.»

Monitoring-Tools

Die Performance ist zudem messbar dank Planungs- und Analysetools wie Hootsuite, Buffer oder Business Suite (Facebook). Eine Musterschülerin fürs Online-Campaigning als Milizpolitikerin ist Sarah Fuchs aus Meilen. Nadine Dünner hat sie konzeptionell beraten, ihre Botschaften, Bildsprache, thematische Verortung und Zielgruppe mit ihr analysiert. Die Betreuung sei aber sehr individuell – je nachdem, wo und wie viel Hilfe eine Person benötige und wie viel Budget sie habe. «Das kann sich von einem sporadischen Sparring-Call bis zum Full Service erstrecken, wo die Kandidatin den Content dann nur noch abnicken muss», sagt Dünner.

Grundsätzlich müsse man als Kandidatin bei der Wahl der Kanäle die dort einsetzbaren Ressourcen mit der Zielgruppe abgleichen. Jeder Kanal hat seinen eigenen Algorithmus und eigenständige Anforderungen fürs Storytelling – CopyPaste war vorgestern. Auf TikTok, LinkedIn oder Twitter kommt erschwerend hinzu, dass keine bezahlte politische Werbung geschaltet werden darf. «Wer das Storytelling eines Kanals beherrscht, kann aber gerade bei neueren Socials organisch sehr viel Reichweite generieren.»

Eine Matrix – Zeit, Netzwerk, Geld, Vertrauen – illustriert die Eckpfeiler, auf denen der Wahlkampf jeweils aufgebaut ist: «Sie können einander zu einem gewissen Grad ersetzen», sagt Dünner. Wer kein Geld hat, muss mehr Zeit investieren, ferner hat jemand mit viel Geld, aber ohne Netzwerk Ressourcen, um ein solches aufzubauen. Ein riesiges Netzwerk mit vielen «Helferlein» spart wiederum Zeit und Geld. «Gerade KMUler hätten ja ein Netzwerk – und auch einen Ruf und Menschen, die ihnen vertrauen. Zwei enorm wichtige Punkte», sagt Dünner.

Unabhängig vom Kanal spürt man seit dem 3. Januar: Jetzt hat die heisse Phase des Wahlkampfs begonnen. «Nach Neujahr sind wir von der Informations- in die Überzeugungsphase übergegangen», sagt Tagmann von BERTA Kommunikation. Diese wird, sobald die Wahlcouverts in die Haushalte flattern, durch die Mobilisierungsphase abgelöst – und den knackigen Slogan: «Streichen. Panaschieren. Kumulieren: Wählen Sie jetzt KMU-lerinnen und KMU-ler! in den Kantonsrat.»

Sind Politiker gute Influencer?

Mitten im Wahlkampf stellt sich natürlich die Frage: Haben auch die Parteien in den letzten vier Jahren ihre Auftritte auf Social Media aufgefrischt? Kommen sie mediengerecht daher? «Politiker sind sicher agiler geworden. Mein Eindruck ist aber immer noch, dass es auf Initiative von Einzelpersonen basiert und nicht zuoberst auf der Prioritätenliste einer Partei steht», sagt Tanja Herrmann von Webstages, einer Zürcher Agentur für Influencer Marketing. «Wenn ich Vertrauen aufbauen will, muss ich mich verletzlich zeigen, Angriffsfläche bieten.» In der Politik werde intuitiv das Gegenteil gemacht, so präsentierten sich viele so «glatt» wie möglich. Das Chaos im Homeoffice, wenn die Tochter auch noch krank ist – das sei authentisch.

«Wer Vertrauen aufbauen will, muss sich verletzlich zeigen.»

Tanja Herrmann
WebStages Influencer Marketing

Bei vielen Inhalten auf den sozialen Medien habe sie immer noch den Eindruck, dass sie «eher gestellt» sind. «Sie erinnern mich an einen Pressetermin. Vielleicht, weil da noch sehr viel Unsicherheit da ist, wie man sich salopp ausdrückt, ohne die Professionalität zu verlieren.» Von Influencern könnten sie laut Herrmann lernen, «wie im Wohnzimmer» zu den Nutzern zu sprechen. Die Storytelling-Kompetenz und die Fähigkeit, ein Thema griffig darzustellen, traue sie vielen Politikern aber zu – demgegenüber wirke aber oft der technische Aufwand, um professionell zu wirken, abschreckend. Beiträge dürften aber durchaus erkennbar von Laien gemacht sein. «Solange der Ton gut ist und man die Person auch kennt, die Kameraqualität auch nicht schlecht ist, spielt es keine Rolle.» Auch TikTok bilde zusehends eine neue Generation von Wählern ab: «Deren Nutzerschaft ist im Schnitt nun von 13- bis 18-jährigen auf 18-30-jährige gealtert», erklärt Herrmann.

Auf allen Kanälen jedoch gilt: Die Nutzer müssten das Gefühl haben, «zu wissen, wen sie wählen.» Die Kehrseite dieser suggerierten Nähe: Wer auf Social Media hohe Engagement Rates und viele Klicks und Shares erreichen will, setzt sich oft auch ungefiltertem und beleidigendem Feedback aus. Und trotz aller Massnahmen, Follower und Likes gilt on- wie offline: Die harte Währung ist nicht das Like, sondern die Stimme. Denn Wahltag ist bekanntlich Zahltag.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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