Wenn Beethoven den Bahnhof räumt

Hatten wir diese Diskussion nicht schon mal während Corona? Was Musik kann, darf und soll? Chöre im ganzen Land wehrten sich gegen das Probenverbot und kämpften um ihr Existenzrecht, ja die Singstunde wurde zum sprichwörtlichen Strohhalm.

Nun wird aktuell nicht das Ansteckungs-, sondern vielmehr das Abschreckungsrisiko gewisser Musik zum Politikum: Nämlich von Klassik als Steuerung von Fussgängerverkehr an Bahnhöfen. Und wieder geht es um Nähe, Distanz beziehungsweise – in diesem Fall – Dichtestress.

Unterschiedliche Musikrichtungen können Kaufentscheide – und, salopp gesagt, Saufentscheide – beeinflussen, weiss der Detailhandel. «Verkaufen Sie zum Beispiel teure Weine, kostbare Öle oder hochwertige Mode für das ältere Semester, sorgt klassische Musik a la Mozart dafür, dass Ihre Waren noch hochwertiger erscheinen», heisst es in einem Ratgeberbeitrag des Ladenbauers Shopdirect.

Hintergrundmusik im Geschäft kann nachweislich den Umsatz steigern. Nun scheint gerade die klassische Musik für unterschiedliche Klientel aber auch ein Fluchtgrund zu sein. Die SBB versuchen seit diesem Frühling, zwischen 8 und 22 Uhr den engen Eingangsbereich ihres Bahnhofs in Bern mit nervtötender, sprich: klassischer Musik von Randständigen zu befreien. Die SBB formulieren es natürlich anders. Klassische Musik soll «für mehr Durchgangsbewegung» sorgen. Die kirchliche Gassenarbeit Bern hält das für Euphemismus, wie die NZZ weiss. Die klassische Musik sei laut und laufe in Dauerschleife. Und: «Klassische Musik soll Menschen in prekären Lebenslagen abschrecken.» Klassik gelte als Musik für «reichere Leute». In La Chaux-de-Fonds wurde vor zehn Jahren bei einem ähnlichen Versuch sogar gewaltsam ein Lautsprecher demontiert. Den Bahnhof in Heerbrugg SG hingegen hält die SBB seit 2010 mit Klassik sicherer und sauberer.

Im Zürcher Hauptbahnhof werden die Reisenden unterirdisch in der Ladenpassage Löwenstrasse mit «mehrheitsfähiger Musik» beschallt. Aktuell kann am Oktoberfest statt Vivaldi, Mozart und Beethoven auf der «Züri Wiesn» im HB beobachtet werden, welche Musik zum Trinken, Schunkeln und Feiern einlädt: alte Schlager und Gute-Laune-Hits aus der Pop-Mottenkiste.

Das macht Sinn: So sollten akustische Lockvögel auf das Produkt zugeschnitten sein. Die «Verführungskünste» klassischer Komponisten wurde in diversen Studien nachgewiesen, etwa in Weinhandlungen. 1999 wurde mit anderen Musikstilen das Kaufverhalten in der Spirituosenabteilung eines britischen Supermarkts analysiert: Bei deutscher Bierzeltmusik griffen die Kunden eher zu Weinen aus dem Rheinland, bei französischen Akkordeonklängen nach Bordeaux & Co.

Mehr «Flow» und weniger Littering dank abschreckender Klassik. Mehr teure Weine – dank verkaufsfördernder Klassik. Dieselbe Musik, die im einen Fall den Alkoholabsatz ankurbelt, zerstört den gemeinsamen Trinkgenuss im anderen. Was hätte wohl Mozart dazu gesagt?

Wadenbeisser

Achtung: Schonungslos bissig

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