Vorsicht, Steinböcke! Wir sind am Berg, nicht auf ihm

Als der Wolf und der Bär länger wegblieben, verliessen die Steinböcke ihr sicheres, wenn auch unwirtlich felsiges Gelände, sie stiegen hinunter auf die saftigen grünen Wiesen, sie benahmen sich wie liebliche Rehe, freuten sich der üppigen Nahrung – vernachlässigten ihr Klettertraining. Kehren nun Wolf und Bär zurück, werden sie deren hilflose Beute. Denn als Rehe sind sie schlicht zu langsam.

Erkennen wir uns im Steinbock? Noch kurz vor Corona gefielen wir uns in einer auffällig gemütlichen Selbstgefälligkeit. Ein paar Velostreifen noch, dachten manche, etwas Elternurlaub, zwei, drei Schrittchen Richtung Energiewende – dann haben wir es geschafft, wir sind oben auf dem Berg angekommen. Ende der Geschichte. Restprobleme sahen wir bei der ETH prima aufgehoben, dort klügelten sie ja schon die tollen Karbonschlürfer aus.

Wir dachten: Die Geschichte läuft schnurstracks Richtung Fortschritt und Vernunft. Und die CH-Sippe vorneweg. Unser Wohlstand ist gesichert. Unsere Gesundheit ist garantiert. Das Schicksal ist abgeschafft. Dann erwischte uns die Pandemie (die nächste könnte kommen, bevor Corona sich ganz verzogen hat). Jetzt Putins Krieg (mit unabsehbaren Folgen, wirtschaftlich, politisch, kulturell). Da Klima macht auch nicht froh. Globalisierung entpuppt sich vor allem als Globalisierung der Krisen. Wir reiben uns die Augen: Unser Fortschrittsoptimismus ist angeschlagen. Nein, unser Wohlstand ist nicht im Trockenen. Nein, unsere Gesundheit ist nicht garantiert. Nein, das Schicksal ist nicht abgeschafft.

Wir sind am Berg, nicht auf ihm. Also ab ins Klettertraining. Siehe Steinböcke. Aber geht das? Klar. Wir wollen doch auch sonst lieber klettern, an Wochenenden und so. Ist klar interessanter als Herumsitzen. Weil es uns fordert. Weil es unsere Kräfte mobilisiert. Da liegt das kleine Geheimnis gutgelaunter Zeitgenossen: dass sie aus sich herausholen, was in ihnen steckt. Es gibt kein Glück, sagte Arthur Schopenhauer, «ausser im Gebrauch unserer Kräfte». Im Gebrauch, nicht im Verzehr. Also kommen wir in Glücksform, wo unsere Kräfte gefordert sind. Am Berg. Mit Hindernissen. Hier wachsen wir. Auf dem Berg schrumpfen wir. Lassen die Seele baumeln – satt, behäbig, gelangweilt.

Das Hirn funktioniert wie ein Muskel. Es wächst am Widerstand. Erstarkt an Widrigkeiten. Haben wir das verlernt, wir Schweizer, verwöhnt nach Jahrzehnten der Sicherheit und Stabilität? Wie schnell verloren manche bei den ersten Verunsicherungen durch Covid ihre Fassung, pöbelten durchs Internet, zeigten auf Sündenböcke: die Politiker, die Experten, die Impfgegner. Und taten sich dabei selber schrecklich leid.

Wir haben wohl nur kurz Zeit, uns umzustellen. Damit nicht auf uns passt, was der Philosoph Immanuel Kant anschaulich formulierte: «Die Taube in ihrem Fluge kommt leicht auf den Gedanken, ohne Widerstand flöge sie noch viel leichter.» Tatsächlich stürzte sie subito ab und wäre mausetot. Mit dieser Taubenhirn-Weisheit ist jetzt hoffentlich Schluss.

Ludwig Hasler

Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch

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