Risiken, Strukturwandel
und Hoffnung

Die Gewerbliche Winterkonferenz fand nach dem Covid-bedingten Ausfall 2021 zum 72. Mal wieder statt. Das Tagungsthema «Perspektiven und Horizonte» gab auch Denkanstösse zu «Risiko», «Strukturwandel» und der Beziehung zur EU/USA. Problematisch sahen mehrere Referenten die Rolle des autoritärer werdenden Staates.

Markus Somm, Chefredaktor des «Nebelspalter» und Moderator der 72. Gewerblichen Winterkonferenz in Klosters, das 2022 seinen 800. Geburtstag feiert, erwähnte bei seinen Eröffnungsworten sarkastisch die «mutige Leistung und heroische Tat», dass sich der Gewerbeverband in den Bergen treffe. Mit dem Anlass beweise man die verbandstypische «Bodenständigkeit und Gradlinigkeit», wie die «Weltwoche» dem sgv attestierte.
sgv-Präsident Fabio Regazzi freute sich, trotz widriger Umstände die Winterkonferenz vom 12. bis 14. Januar durchführen zu können – unter Einhaltung der Schutzkonzepte. Politisch werde der sgv mittlerweile gehört – zuletzt vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen während der Pandemie. «Und wir sind auch in der Lage, Allianzen zu schnüren.» Problematisch sieht Regazzi die Rolle des Staates in jüngster Zeit. «Damit meine ich nicht nur die vermehrten Eingriffe in unsere Wirtschaftsfreiheit, sondern in unser Privatleben.» Die KMU litten am meisten unter der Regulierungsflut – um diese einzudämmen, kämpfe der sgv beim Thema Regulierungsbremse mit konkreten Vorschlägen einerseits, anderseits mit dem Entlastungsgesetz erfolgreich für Unternehmen.

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Bild Mark Gasser
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Gedanken zum «Null-Risiko»
Ähnlich wie sein Vorredner, der Ökonom und Direktor des Liberalen Instituts Olivier Kessler («Die Null-Risiko-Gesellschaft»), prangerte auch Alt-Bundesrat Kaspar Villiger (1993 bis 2003) den Sicherheitsfanatismus an sowie den Irrglauben, der Staat könne alle Probleme des Bürgers lösen. So beobachtet Villiger Tendenzen hin zum despotischen Staat. Sinnbildlich dafür, floriere die Versicherungswirtschaft: «Eine Gesellschaft, die keine Risiken mehr eingeht, erstarrt.» Zu diesem Bewusstsein trage auch bei, dass heute 27 Prozent der Erwerbstätigen vom Staat abhängig seien – viele Berufspolitiker im Parlament schloss er mit ein. «Das ist für mich eine Perversion des Milizgedankens.» Wichtig sei nun, dass sich die Wirtschaft nicht auseinanderdividiere. Er hofft daher auf die jüngst verkündete Wirtschaftspolitische Agenda aus drei Verbänden, darunter der sgv – und dass sich diese im konkreten Fall dann zusammenrauften.
Das Stichwort Risiko und Risikoaversion wurde anschliessend auf dem Podium von Markus Somm mit vier Vertreterinnen aus Jungparteien wieder kontrovers diskutiert: GLP-Jungpolitikerin Leena Raass fand etwa, gegen die These, dass wir risikoscheuer geworden seien, spreche die steigende Zahl von Unternehmensgründungen 2020. Camille Lothe (Junge SVP) zitierte aus dem Corona-Monitoring: Die Angst komme demnach in Wellen, im Gleichschritt mit einer neuen Variante stiegen die Infektionen – und die Panik. Die Menschen überschätzten die Gefahr dann jeweils.

Was ist ein Business Angel?
Den wirtschaftlichen Strukturwandel aus der Sicht des «Business Angel» griff Unternehmer Adrian Steinmann auf. Ein Business Angel baue eine Geschäftsidee durch Beteiligungen zu einem vermarktbaren, multiplizierbaren Produkt auf, bis es läuft – dann gebe man es wieder ab. Erfolg hätten jene Startups, die ein konkretes Problem lösten. Die meisten «Knaller» seien eine Kopie einer bestehenden Idee. Aber: «Die Idee macht maximal 20 Prozent aus, 80 Prozent Vertrieb und Marketing.»
Mit sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler und Myra Fischer-Rosinger (Direktorin Swissstaffing) diskutierte Somm die Frage, wie Verbände dem Strukturwandel begegnen. Hans-Ulrich Bigler meinte, es gebe nicht den einen punktuellen Strukturwandel. «Die Wirtschaft befindet sich im ständigen Wandel.» Bigler erwähnte auch die moderne Arbeitswelt mit Homeoffice, mit welcher das bestehende Arbeitsgesetz mit Stempelarbeit aus den 1950er Jahren nicht kompatibel sei – Stichwort Pausenregelung. Fischer-Rosinger sah es kritisch, wenn man sich als Verband zunächst einfach zurückhalte und abwarte. «In der Realität funktioniert dies nicht immer, weil Neues auch immer Ängste schürt. Deshalb reagieren Politiker mit Schnellschüssen, also mit Regulierungen.» Die Plattformarbeit existiere schon lange, die Flexibilität dieser Modelle werde aber dennoch als etwas Neues und als Gefahr wahrgenommen.

USA bald Exportpartner Nr. 1?
Der Publizist Beat Kappeler nannte den Strukturwandel «ausserordentlich zäh, langsam und oft erst hinterher erkennbar». Auch er sieht die Delegierung von Verantwortung an den Staat und den geltenden Grundsatz «Niemand muss mehr leiden» in Kombination mit wachsenden Staatsschulden in vielen Ländern als grosses Problem. Politiker hätten direkten Zugang zur Notenpresse: Was sie beschliessen, wird finanziert. Doch trotz Aufhebung des Euro-Mindestkurses (CHF 1.20) durch die Nationalbank habe die Wirtschaft sich angepasst, und die USA ist zum ebenso grossen Exportkunden wie Deutschland geworden. Kritisch beobachtet Kappeler einen anderen Strukturwandel: die Entwicklung von der ursprünglichen reinen Wirtschaftsgemeinschaft EWG über die EG hin zum «Superstaat» EU. Wer sich mit diesem in ein Rahmenabkommen begebe, liefere sich einem Vertrag brechenden Chamäleon an die Kette. Ähnlich kritisch äusserte sich dazu Martin Janssen, Gründer der ECOFIN Group, der sich virtuell zugeschaltet hatte.

Warum die Chinesen lachen
Peter Fischer, Redaktor der NZZ, begrüsste am Freitagmorgen Thomas Reichart, ehemaliger ZDF-Korrespondent in Peking. Dieser erklärte ausführlich, «warum Chinesen über uns lachen». China dränge nach vorn dank Risikobereitschaft, Ehrgeiz, Fleiss und Bildungseifer. Die Partei stehe derweil über allem: Einer der grössten Irrtümer des Westens sei die Hoffnung gewesen, der wirtschaftlichen würde auch eine gesellschaftliche Liberalisierung folgen. «Wir müssen unsere China-Naivität ablegen, ein Schnäppchen machen zu können in Sachen Wirtschaftsbeziehungen und Freihandelsabkommen.»
Eine KMU-Sicht aufs rätselhafte Indien gab dann der Unternehmer Lionel Schlessinger (Monopol Colors aus Fislisbach AG). Der Inhaber des Farb- und Lack-Herstellers malte ein farbenfrohes Bild Indiens, wenngleich er nach einigen Joint Ventures in China die Inder als «härteste Verhandler» bezeichnete. Zum Alltag gehörten aber auch Schmiergelder, Bürokratie und überregulierte (Kapital-)Märkte. Sozusagen als Kontrastprogramm schwärmte der ukrainische Botschafter Artem Rybchenko vom Business Potenzial in der Ukraine und deren visafreier Zone. Ausländische Investoren würden zudem durch neue Gesetzgebungen geschützt, auch wenn im Osten die Konflikte tobten.
Unter dem Titel «Die nächste Krise kommt bestimmt», zeigte der pensionierte «Mister Corona» Daniel Koch auf, weshalb aus Problemen überhaupt erst Krisen werden. Insgesamt gab er dem Bundesrat für die Covid-19-Politik gute Noten, auch wenn er monierte, dass man die Gesundheit der Leute nicht auf die Bekämpfung des Virus reduzieren könne. «Man kann nicht alles, was Business ist, weiterlaufen lassen und alles, was Freizeit ist, verbieten.»

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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