«Die Mehrheit ist sogar hässig»

Verärgerte Autofahrer, verwirrende Verkehrsführung, gestrandete Touristen, geschlossene Geschäfte im Seefeld und in Zürichseegemeinden: Die Rad-WM hallt beim Gewerbe nach. Teilweise wird Schadenersatz gefordert.

Bild Mark Gasser

Polizei, Helfer und Automobilisten versuchen, einen Kompromiss zu finden.

Das Ehepaar Kron vom Souvenirshop.

Polizei, Helfer und Automobilisten versuchen, einen Kompromiss zu finden, während einige Fahrer sich abseits der Strecke aufwärmen.

Ein Paracycling-Rennen in der Nähe der Universität.

«Wie während dem Lockdown»: Im Seefeld war während der Rad-WM, zumindest unter der Woche, wenig los. Hier der Zielbereich beim Bellevue.

Gähn: Ein Zivi beim Mittagsschlaf, während vor ihm das Fahrerfeld eines Tandem-Events vorüberzieht.

Massive Behinderungen wegen Strassensperrungen, die länger dauerten als angekündigt und Betriebsferien nach sich zogen, grosse Umsatzeinbussen von Zürcher Beizen und Läden, Lahmlegung ganzer Quartiere: Die Bilanz der Rad- und Paracycling-WM vom 21. bis 29. September fällt aus Sicht des Zürcher Gewerbes mies aus. Der Tenor: Eine Zwängerei zugunsten eines Imagegewinns für Zürich, der die Stadt, aber auch die betroffenen KMU viel kostete – und der viel verträglicher mit Gewerbe und Anwohnern hätte stattfinden können. Der Anlass dauerte wegen der Rennen, die beim Bellevue endeten, zu lange.

Nach einem E-Mail-Versand an die KGV-Mitglieder, der mit dem Beginn der Rad-Weltmeisterschaft überlappte, kamen zahlreiche automatische Antworten aus der Stadt Zürich, dem Seefeld oder einigen Goldküstengemeinden zurück nach dem Muster: «Betriebsferien wegen der Rad-WM». Darunter Blumenläden, Arztpraxen, eine Tierärztin, ein Optiker und zahlreiche Handwerksbetriebe.

Dachdecker im Clinch mit Stadt

Einer dieser Betriebe ist die Dachdeckerfirma Fritz Looser Söhne an der Fehrenstrasse in Zürich. In der Nähe des Kinderspitals domiziliert, entschied Geschäftsführer Richard Looser, den Laden dichtzumachen: «Wenn ich nicht über die Bergstrasse oder nach Witikon fahren kann, bin ich als Handwerker einfach aufgeschmissen. Die sieben, acht Meter lange Leiter lässt sich nicht mit dem Cargovelo transportieren.» Bei mehreren Kontakten mit der Stadtverwaltung sei er darauf hingewiesen worden, sich notfalls ins Homeoffice zurückzuziehen. «Ein Handwerker kann nicht ins Homeoffice», so Looser. «Ich werde der Stadt für den Umsatzverlust eine Rechnung stellen, auch wenn diese nicht reagieren wird», kündigt er an. Looser rechnet nun damit, dass die rund 40 Verkehrsinseln, welche das Tiefbauamt zurückgebaut hat, wochenlang wieder aufgebaut werden. Bei einem Kreisel wurden sogar einige Bäume gefällt, um eine Insel «abzuspitzen», weiss Looser. In der grünen Stadt Zürich, wo jeder Baum sakrosankt ist.

Direkt an der Rennstrecke an der Binz liegt sein Magazin – fünf Tage Vollsperrung verunmöglichten die Materialbeschaffung. Hinzu kämen die vielen gesperrten Parkplätze, die ein Abstellen des Dienstfahrzeugs vor Ort praktisch verunmöglichten. So hatte er nach der Rad-WM wegen wetterbedingten Unterhaltsschäden alle Hände voll zu tun. Dachrinnen und Dächer mit Lecks müssten geflickt werden. «Deshalb sind wir jetzt wieder am Schleudern, um die Kunden zufrieden zu stellen», erzählt Looser.

Yvonne Hiller, Geschäftsführerin des Zürcher Hotellerie Verbands (ZHV), zieht eine Bilanz aus Sicht der Hotels. Diese fällt durchzogen aus: Der September sei ganz grundsätzlich ein starker Monat für die Zürcher Hotellerie, daher sei das Geschäft im Schnitt der Jahreszeit entsprechend verlaufen, so die Rückmeldung der Hotels im Verband. «Es gibt aber vereinzelt Betriebe, insbesondere aus der Kernzone, welche leichte Einbussen oder zumindest organisatorische Herausforderungen vermelden. Andere berichten über leichten Zuwachs, wobei die Grossregion stärker profitiert hat als Betriebe in der Kernzone», so Hiller.

Die Einschränkungen und Auswirkungen seien im Vergleich zum Nutzen des Events sehr gross, die Aufwände für Betriebe im betroffenen Gebiet enorm, unter anderem wegen der erschwerten Zufahrten je nach Lage der (ohnehin ausgelasteten) Betriebe.

Dennoch meint Hiller versöhnlich: «Wir freuen uns über das insgesamt sehr positive Bild der Stadt und Umgebung, welches dank der Rad WM in die Welt hinausgetragen werden konnte. Wir gehen davon aus, dass Zürich von diesem Imagegewinn profitieren wird.»

Ein Viertel weniger Umsatz

Ob Zürich nachhaltig profitieren wird von der Rad WM, daran glaubt man gerade in einer Branche nicht, die eigentlich ob solcher Aussagen jubeln sollte: Der Gastronomie. Gerade für Gastronomen bedeuten neun umsatzschwache Tage ein Loch in der Kasse, das schwer zu kompensieren ist. Auch der oberste Wirt der Stadt Zürich Nicolas Kern, Pächter des «Degenried» beim Dolder und Präsident von Gastro Stadt Zürich, berichtet: «Ich selber bin auch geflüchtet vor der WM. Wir haben während dieser Zeit etwa 25 Prozent Einbussen gehabt.» Ein Viertel Umsatzverlust sei auch die Grösse, die er von vielen Restaurants im Zentrum gehört habe. Immerhin hätten einzelne Restaurants direkt an der Strecke zumindest bei gutem Wetter auch gut gearbeitet. «Für die meisten anderen wirkten sich die neun Renntage aufgrund der viel zu langen und auch unnötigen Sperrungen negativ aus. Viele von unseren Gästen waren im Home Office oder ganz in den Ferien», berichtet Kern aus dem eigenen Restaurant.

Was für Kern besonders unverständlich war: Grundsätzlich waren die Zeiten, in denen die Velos die Strecke in der Stadt passierten, relativ kurz. «Vorher und nachher wurde aber alles für Stunden hermetisch abgeriegelt.» Einzelne Gastronomen im Seefeld hätten sich «gefühlt wie während dem Lockdown zu Pandemiezeiten, als die Strassen leergefegt waren». Mit dem konnten und wollten wir nicht rechnen. Für ihn ist deshalb klar: «Die Rad-WM war zu lang und zu zentral. Auf dem Land hatte es gefühlt wesentlich mehr Zuschauer als in der Stadt. Fazit: Ausser Spesen nix gewesen.»

Es gebe sogar Mitglieder, die der Meinung seien, man müsse von der Stadt Schadenersatz einfordern. Das sei wohl eher Wunschdenken. Fakt ist aber: «Die Mehrheit ist eher unglücklich und sogar hässig.» Die Velofans seien wohl auch nicht die Klientel für die Gastronomen. Diese ernährten sich eher von privat mitgebrachtem Essen.

Im Butchers Table, einem Steakrestaurant in der Nähe des Bellevue, meinte ein Mitarbeiter, dass es im Vorfeld viel Fehlkommunikation gegeben habe. «Und viele Kunden, darunter Banker, die normalerweise im Büro arbeiten, blieben der Stadt fern.»

Langer Stau in ruhigem Quartier

Eine Sperrung an der Kreuzung Mühlebach-/Kreuzstrasse zeigt im Kleinen auf, wie überfordert die Organisatoren beziehungsweise die Helfenden teilweise bei der Koordination waren – trotz der wenigen Zuschauer unter der Woche. Rund eine Stunde lang staut sich eine immer länger werdende Kolonne am Mittwoch, 25. September. Eingeklemmt in der Blechlawine, steigen einige verärgerte Automobilisten aus – darunter auch Gewerbler.

Darunter eine Frau, die an der Mühlenbachstrasse einen Arzttermin hat – nach einer Umleitung findet sie sich eingekesselt am selben Ort wieder. Ohne Möglichkeit, umzukehren. Immerhin: die Ambulanz schafft es, notgedrungen zu wenden. «Die Polizei hat Gassen eingezeichnet, die gar nicht offen sind», meint die Frau. Auch den Polizisten vor Ort ist offenbar nicht klar, welche «offizielle» Streckenführung beziehungsweise Querungszeit nun gilt. Umleitungen sind nicht signalisiert, man muss auf Sicht den Absperrungen entlang fahren. «Wir sind nur noch im Kreis herumgefahren», so die Stadtzürcherin.

Ein Mann, der vom Kinderspital auf dem Nachhauseweg ist, ist ebenfalls eingesperrt. «Die WM muss doch nicht zwingend durch die City. Das verstand ich von Anfang an nicht», schimpft er. Der Postbote, der als einziges Fahrzeug im Gegenverkehr ebenfalls steckenbleibt, meint, dass er noch früher als sonst seine Schicht starte, um überhaupt durchzukommen. 20 Pakete müsste er an der gestauten Strasse noch ausliefern. Seit zwei Stunden wäre er nun eigentlich fertig. Doch es geht nichts.

Helfer dürftig informiert

Nach längerem Hin und Her zwischen Polizei, verärgerten Autofahrern und Helfern in blauen T-Shirts, wird die Absperrung dann kurz geöffnet, um den Stau aufzulösen. Eine der ungelösten Fragen: Der Start des Mixed-Rennens von diesem Mittwoch hätte um 10.45 stattfinden sollen. «Jetzt verstehe ich nicht, warum das Rennen nicht gestartet zu sein scheint», meint ein Helfer in einem offiziellen UCI-Auto der Organisatoren, der normalerweise für die Tour de Suisse im Einsatz ist. «So haben wir die Abschrankung nochmals geöffnet und die Strasse geleert.» Die Fahrer hätten schon längst vorbeibrausen müssen. Möglich, dass sie zuerst zweimal den Seezirkel statt achtmal den Stadtzirkel fahren, spekuliert er. «Wir haben nicht mal Guides erhalten zum Nachlesen. Im Internet mussten wir alles nachschauen», ärgert er sich. Sein Eindruck: Hätte der Tour-de-Suisse-Zirkus hier Station gemacht, wäre es nicht zu so vielen Unklarheiten, langen Verkehrsbehinderungen und verärgerten Gewerbebetrieben gekommen. «Es gibt offenbar mehrere Pläne», meint eine Helferin.

Keiner weiss letztlich vor Ort, ob die Absperrungen nötig sind – oder ob übertrieben lange gesperrt wird, weil falsche Angaben im Umlauf sind. Dass aber Absperrungen grundsätzlich übertrieben lange aufrecht erhalten wurden – dieser Eindruck entsteht im Gespräch mit Gewerbetreibenden aller Couleur.

Und die Sperrungen und Umleitungen sollten auf den digitalen Navigationssystemen jeweils aktuell gehalten werden. Weder stimmten aber diese Angaben über die Geodienste in vielen Fällen, noch wurde nach Rennschluss wie angekündigt «spätestens ab 19 Uhr» der Verkehr wieder in den Normalbetrieb überführt. Oft warteten Gastronomen bis weit in die Nacht auf ihre Lieferungen. Die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich meinte zwar gegenüber SRF, dass das Verkehrsregime funktioniert hat. Um gleichzeitig einzuräumen, dass ausgerechnet Google-Maps die tatsächlichen Umleitungen nicht wiedergab, was unter anderem zu zwischenzeitlichen Staus führte.

Souvenirshop: 50 % Einbruch

Im Souvenirshop Bellevue Alp beim Bellevue gibt das Unternehmer-Ehepaar Kron Auskunft: «Das Geschäft ist derzeit tot. Denn die Stammkunden kommen nicht in die Stadt. Sie waren alle auf der Flucht», sagt Bernhard Kron Mitte der Rennwoche. Das Ehepaar spricht von einem Umsatzeinbruch von rund 50 Prozent. Immerhin: Ein Velofahrer aus Estland sei im Laden vorbeigekommen. «Vielleicht kommen ja noch andere», hoffen die Ladenbetreiber. Weil ab Mittwoch auch die Trams nicht mehr über die Quaibrücke gefahren sind, seien die Touristen auf beiden Seiten der Limmat «gestrandet». Die ausländischen Gäste hätten sich nicht ausgekannt und blieben hängen.

Das Ehepaar bedauert indes besonders Geschäfte im Seefeld, aber auch Zürichsee-Gemeinden. «Wir kennen Leute, die dicht machten und sind der Meinung, dass die Stadt die Verträge nicht eingehalten hat, indem sie auf eine grüne Phase verzichtete.» Zum Teil seien zwar kurzfristige Massnahmen und Anpassungen bestimmt worden, aber die seien nicht oder nicht gut genug kommuniziert worden. Bernhard Kron äussert sich generell kritisch zu Grossanlässen in der Stadt: «Die Events, die hier in letzter Zeit stattfinden, sind einfach desolat organisiert».

Nach dem Grossanlass wünscht sich die City-Vereinigung Zürich einen «neuen Konsens bezüglich temporärer Grossanlässe» in Zürich. Ähnlich kritisch äusserte sich Nicole Barandun, Präsidentin des Gewerbeverbands Stadt Zürich (GVZ) und KGV-Vizepräsidentin, in den Medien. Im Tages-Anzeiger sprach sie gar von «Lockdown-Stimmung». Nun darf man gespannt sein, was die Studie, welche die Stadt in Auftrag gab, die 10 Millionen Franken in den Event steckte, zu den ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen der Rad- und Paracycling-WM aufdeckt. Der Stadtrat erhofft sich davon «wertvolle Erkenntnisse für die Planung und Durchführung von grossen Veranstaltungen in der Zukunft», wie er schreibt.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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