Sind denn diese Zeiten nüchtern überhaupt zu ertragen?
Das Leben wird härter. «Egal wieviel man trinkt – das Risiko für die Gesundheit beginnt schon beim ersten Tropfen», sagt die WHO und fordert Warnhinweise. Für mich kommt die Warnung definitiv zu spät, sie passt jedoch zum Trend: Nicht trinken, nicht rauchen, gesund essen, früh ins Bett. Hauptsache gesund. Darf man fragen: Wozu? Um länger zu leben? Longevity, die Losung der Stunde. Das Altern ausbremsen. Kann hart werden: permanent darauf achten, dass «nichts passiert». Bis buchstäblich nichts mehr passiert.
Siehe Bryan Johnson, die US-Galionsfigur der Langlebigen, der ist etwas über 60, biologisch aber erst 45, bravo! Wie schafft er das? Er beschäftigt sich rund um die Uhr mit seinen Körperzuständen: Training, medizinische Kontrolle, Zwangsschlaf, über den Tag verteilt 100 Pillen – irre Karriere: der Mensch, einst Weltgestalter, wird zum Buchhalter der eigenen Körpervorgänge.
Die WHO meint es halb so penetrant. Die Haltung ist dieselbe: Jederzeit alles tun (vor allem lassen), um die Gesundheit zu schonen. Aus Angst, am Ende am Leben noch zu sterben? Schon Plato wusste: Sich dauernd um seine Gesundheit sorgen ist auch eine Krankheit. Ja, so ein Spiesserleben macht krank. In Form kommt doch, wer sich einsetzt für etwas, sich an etwas verschwendet. Nicht wer sich ängstlich verschont. Die Alternative lautet ganz einfach: Willst du möglichst viele Tage in deinem Leben – oder möglichst viel Leben in deinen Tagen? Klarer Fall? Nun läuft halt manchmal «mehr Leben» leichter mit etwas Whisky. Siehe Ernest Hemingway. Oder mit Rauchen. Siehe Sigmund Freud. Er litt unter Kehlkopfkrebs, 32 qualvolle Operationen, eine Folge seiner Raucherei (bis 20 Zigarren täglich). Freud versuchte ein paarmal aufzuhören – und büsste sogleich seine schöpferische Energie ein: «Der psychische Kerl in mir weigert sich zu arbeiten.»
Sigmund Freud wollte arbeiten, wirken, forschen, heilen. Nicht bloss unbeschadet über die Runde kommen. Wie hätte er die Losung «Hauptsache gesund» verstehen sollen? Dass man doof sein darf, auch langweilig und unproduktiv – bloss nicht rauchen? Rauchen mag auch doof sein, nur hatten die Genietypen, die uns voranbrachten, noch etwas mehr im Sinn als ihren Cholesterinspiegel. Thomas Edison rauchte, Albert Einstein, Thomas Mann, Picasso sowieso, Churchill erst recht. Überdies tranken sie ein Vielfaches dessen, was das Bundesamt für Gesundheit für zulässig hält. Produktive Typen kriegt man nicht durch verordnete Schonung. Sie sind unersättlich, eher rücksichtslos gegen sich selbst, leidenschaftlich im Wissen- und Wirkenwollen, besessen vom Willen zum Aussergewöhnlichen.
Manche Gesundheitsapostel verstehen einfach nicht, wie ein Mensch tickt. Sie verwechseln ihn mit einem biochemischen Apparat. Mag sein, der dreht nach einem Glas Whisky durch. Menschen kann es animieren. Also stärken. Weil da drin nämlich eine Seele mitspielt.
Gesundheitsprediger haben doch auch eine, oder?
Ludwig Hasler
Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch
Ihre Meinung ist uns wichtig
Das Thema ist wichtig.
Der Artikel ist informativ.
Der Artikel ist ausgewogen.