Schweizer KMU und der kalte Sanktionskrieg

Immer mehr ausländische Firmen verlassen Russland oder stellen ihr Geschäft dort ein. Zwar geben Schweizer KMU an, mehr unter den Sanktionen zu leiden als russische mit Handelsbeziehungen zur Schweiz. Dennoch sind Handelsnetzwerke zuversichtlich, dass die meisten bleiben werden.

Archivbild Vetropack/zvg

Das Werk der Vetropack Holding AG in Gostomel wurde während der Angriffe durch russische Truppen am 6. März auch beschädigt.

Pochajiw (UKR) vor dem Krieg. Bild Mark Gasser
Pochajiw (UKR) vor dem Krieg. Bild Mark Gasser

Während die dunkle Wolke des Krieges über der Ukraine die Produktion von Gütern und Nahrungsmitteln lahmlegt, ziehen sich in Russland ausländische Unternehmen aus politischen Gründen aus dem Geschäft zurück. Eine Schweizer Firma nach der anderen kehrt Russland den Rücken. ABB hat Anfang Monat seine Tätigkeit und die Annahme neuer Aufträge in Russland eingestellt, Stadler Rail will sich teilweise aus Weissrussland zurückziehen. Internationale Firmen wie IKEA, McDonald’s, Pepsi oder einzelne Autobauer haben sich (zumindest vorübergehend) ganz vom russischen Markt abgewandt.
Auf Sanktionen gegen russische Oligarchen und Güter drohen harte russische Gegensanktionen. Und der Druck auf ausländische Unternehmen, die Beziehungen gerade in Russland abzubrechen, werde wohl noch steigen, sagt ein Schweizer Geschäftsmann, der sich als «Quelle aus der Business-Community in Russland» zitiert haben möchte. «Dazu kommen beträchtliche Logistikprobleme, Sanktionen, Bedenken betreffend Solvabilität und Bonität der russischen Firmen, der Devisenkurs und Devisenbeschränkungen und anderes mehr.» Der Kanton Zürich ist – gemeinsam mit der Romandie und dem Kanton Zug – die wichtigste Standortregion für Geschäftsbeziehungen mit Russland. Entsprechend besorgt zeigen sich die verschiedenen Handelsnetzwerke und -kammern, die sich den Schweizer und russischen oder ukrainischen Handelsbeziehungen widmen.

Russische Gegensanktionen
Vor wenigen Tagen kam vom Kreml ein Erlass, wonach ausländische Firmen als Gegenmassnahme zu den westlichen Sanktionen verstaatlicht werden können. Bei genauerem Hinsehen dürften indes nur grosse Firmen ins Visier des Staates geraten, lange bevor KMU die Konfiszierung droht.
Gemäss der noch schwammig formulierten Gesetzesvorlage müssten nämlich drei Kriterien kumulativ erfüllt sein, erklärt Michael Kühn, Senior Consultant für Russland/GUS-Länder bei Switzerland Global Enterprise: «Firmen, die ausschliesslich nach Russland exportieren, sind nicht betroffen von der Thematik. So muss gemäss dem Entwurf die Schweizer Besitzerschaft auch vor Ort eine Firma zu mehr als 25 Prozent besitzen, und sie muss über 100 Mitarbeiter anstellen. Zudem würde die Enteignung schrittweise geschehen von einer externen Verwaltung über die Auktion bis hin zur Verstaatlichung», sagt Kühn, der als Berater auch in ständigem Austausch mit Firmen steht, welche Niederlassungen in Russland haben. «So wie wir es im Moment beurteilen, werden KMU davon nicht gross betroffen sein». Nur ganz wenige der Schweizer KMU wollten sich auch komplett aus dem russischen Markt zurückziehen. «Jene, die lokal Geschäfte abwickeln, tun alles dafür, um diese zumindest minimal aufrechtzuerhalten, die Löhne zu zahlen, und ihren vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Denn all diese Firmen haben sehr viel Geld und Zeit in eine Expansion in den russischen Markt investiert. Das geben sie nur ungern auf», so Kühn. Projekte zum Markteinstieg dauerten nicht selten zwei Jahre.
Zum drohenden – und vorläufig abgewendeten – Staatsbankrott, der Abschreckung von Investoren und der Anhebung des Leitzinses auf 20 Prozent kommt allerdings der Wertzerfall des Rubels. Dadurch würden die sonst schon hochpreisige Produkte aus der Schweiz noch teurer. Zudem erschwere sich die Logistik – riesige Umwege über Land müssten oft in Kauf genommen werden. «Es fliegt fast kein Spediteur mehr nach Russland», sagt Kühn. Ausserdem erschwere der Swift-Ausschluss von russischen Banken finanzielle Transaktionen vor allem für Exporteure aus der Schweiz. Ganz überraschend komme die aktuelle staatliche Bedrohung in Russland für die meisten aber nicht: Wer sich im russischen Markt angesiedelt habe, sei sich der Risiken schon vorher bewusst gewesen: Etwa der Volatilität der Währung, der rechtlichen Rahmenbedingungen, dem Marktumfeld. «Seit dem Krim-Konflikt, als es bereits Sanktionen gegen Russland gab, sind alle schon sehr gut vorbereitet auf solche Szenarien. Doch von allen Szenarien war Krieg das allerletzte und schlimmste.»
Auch Till Frey, der Sekretär des Swiss Club Russia (SCR), organisierte früher Reisen für Schweizer Geschäftsleute, um sie vor Ort mit Vertriebspartnern zu vermitteln. Doch seit Jahren sei die Nachfrage in Russland sinkend, die politischen Verhältnisse werden zudem instabiler, die Kaufkraft sinkt. So hat sich der 47-Jährige, der jahrelang für internationale Unternehmungen als Berater und Projektleiter tätig war, bereits seit 2014 schrittweise wieder vom russischen Markt verabschiedet.
So ist Frey mittlerweile fast monatlich wieder in der Schweiz. Seine Abhängigkeit vom Beratungswesen in Russland habe er «auf null gefahren». Dies nicht ganz freiwillig: Seine verbliebenen beiden russischen Kunden seien «Opfer des russischen Staates» via Corporate Raiding (der russischen Variante «reiderstvo»): In einem Fall sei ein Ölraffinerie-Betreiber durch die staatliche Sberbank grosszügig mit Kredit ausgestattet worden, um ihn kurz darauf mit «erfundenen Vorwürfen» von Kreditmissbrauch in den Konkurs zu treiben. Darauf wurde die Firma übernommen.
Nun ist Frey in einigen Verwaltungsräten russischer Firmen, die sich explizit von den Abhängigkeiten vom Staat lösen wollen – etwa, indem sie in der Schweiz eine Tochtergesellschaft gründen oder gar den Hauptsitz verlegen.

Suche nach Partnern auf Eis gelegt
Von Andelfingen aus hilft auch Regula Spalinger mit ihrem KMU «Kommunikation Ost West» Schweizer Unternehmen, im russischen Markt Fuss zu fassen. Spalinger vermittelt Wirtschaftsbeziehungen zwischen Zentral- und Osteuropa und bietet Übersetzungsdienste an. Daneben engagiert sie sich für soziale Projekte.
Aktuell ist sie mit den Vorrecherchen für ein Schaffhauser Unternehmen betraut, das Logistiklösungen für Eisenbahnunternehmen entwickelt. «Da war eine Marktstudie für Russland geplant. Diese Pläne wurden auf unbestimmte Zeit aufgeschoben», sagt Spalinger. Ein weiteres Engagement, einem Hersteller von Luft- und Befeuchtungssystemen aus dem Bodenseeraum den Markt-eintritt über Vertriebspartner in Russland vorzubereiten, wurde wegen des Krieges auf Eis gelegt.

KMU in der Ukraine
Die Schweiz war zuletzt eine der vier grössten Investoren in der Ukraine. Die Produktion in der Ukraine ist nun landesweit – mit einigen wenigen Ausnahmen wie IT-Dienstleistungen – praktisch zusammengebrochen: Im Moment seien keine Warentransporte möglich, die nicht humanitärer Natur sind, sagt Michael Kühn von Switzerland Global Enterprise. Er steht auch in Kontakt mit drei Schweizer Firmen in der Ukraine, die ihr ganzes Personal und Inventar in Sicherheit gebracht haben und nun nach Lösungen suchten, die Löhne weiter zu zahlen und ihre unternehmerische Verantwortung wahrzuhaben. Auch hier ist also (noch) nichts entschieden.
Der ukrainische Standort Gostomel nahe Kiew des Glasverpackungsherstellers Vetropack mit Sitz in Bülach wurde im Zuge «militärischer Aktionen» beschädigt, wie Kommunikationsverantwortliche Simone Koch mitteilt. «Dank der frühzeitigen Entscheidung des Unternehmens, die Produktion am Standort auszusetzen, wurde niemand von der Belegschaft verletzt». Um die Mitarbeitenden in der Ukraine weiter zu unterstützen, will Vetropack einen Hilfsfonds für den Wiederaufbau ihrer Häuser äufnen. Ziel sei auch ein Wiederaufbau der Fabrik nach Ende der militärischen Auseinandersetzungen. «Sicher ist schon jetzt, dass Teile der Produktion schwer beschädigt wurden. Eine zeitnahe Wiederaufnahme der Produktion ist nicht mehr möglich».
Zu den unmittelbaren lebensbedrohlichen Problemen wie Bomben, Wasser- und Nahrungsmittelknappheit kommt in der Ukraine zunehmend auch die Stromversorgung als Herausforderung – nicht zuletzt für Firmen ist diese überlebenswichtig.

NGO-Gesetz
Jährlich flog Regula Spalinger jeweils ein- bis zweimal nach Russland – vor Corona. In den letzten Jahren hatten ihre Besuche vor allem einen gemeinnützigen Hintergrund: Ihr Engagement geht nämlich über ihre Wirtschaftsbeziehungen hinaus und ist im Bereich Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt.
Der Kreml hatte bereits im Zuge der «Orangen Revolution» in der Ukraine NGOs, welche ausländische Gelder bezogen, massgeblich mitverantwortlich gemacht für die politischen Aufstände und Veränderungen im Nachbarland. Fortan widmete das russische Regime der eigenen Zivilgesellschaft mehr Aufmerksamkeit: So wurde das NGO-Gesetz nach der Niederschlagung von Protesten unter Beteiligung verschiedener Bürgerrechtsorganisationen im Jahr 2012 mit Registrierungs- und Berichtspflichten versehen und nach Putins dritter Wahl 2018 nochmals verschärft. Der Eintrag ins Agenten-Register bedeute in der Regel Dauerbeobachtung, Schikane, ständige Berichtspflicht und reduzierte Spendenmöglichkeit, sagt Spalinger. Gerade Menschenrechtsorganisationen betrachte der Staat als Bedrohung.

Swiss Club nicht registriert
Der Swiss Club Russia (SCR) selber war nach seiner Gründung 1982 zunächst als Verein gemäss OR eingetragen, hat jedoch vor einigen Jahren den juristischen Mantel abgelegt und ist auch in der Schweiz nicht mehr als Verein registriert – das Risiko, in Russland nach einer Gesetzesänderung den «Agentenstatus» zu erhalten, wäre zu gross. Somit war die wichtigste «Amtshandlung» in den letzten Jahren das monatliche Treffen am Stammtisch zum Austausch. Doch seit der Coronakrise ist ein harter Kern von rund 80 Personen regelmässig über einen Gruppenchat in Kontakt. Dutzende von Leuten wollten nach dem 24. Februar etwa wissen, ob nun ihre Kreditkarten nicht mehr funktionierten und wie Geldtransfers abzuwickeln sind, erklärt Till Frey, Sekretär des SCR.
Auf der Schweizer Botschaft sind nur 800 Schweizer Bürgerinnen und Bürger in Russland gemeldet, «davon über die Hälfte ehemalige Ehefrauen von Schweizer Männern. Sie haben daher wenig Beziehung oder Interesse am Schweizer Club oder daran, die Schweizer Traditionen zu pflegen», so Frey. Auf der E-Mail Liste des SCR seien 200 Adressen, etwa 80-90 davon im Chat. Im Club seien auch Russen willkommen. Doch einige besonders grobschlächtige linientreue russische Mitglieder seien kurzerhand ausgeschlossen wurden. Unklar sei, ob später der Staat die Chats als «öffentliche Äusserungen» einordnen werde, so Frey. Er habe daher über den Schweizer Chat-Dienst Threema eine neue Gruppe lanciert.

Schweiz einfach?
Die Schweiz hat derweil die Reisehinweise nochmals verschärft. Sie empfiehlt Auslandschweizern die Ausreise aus Russland. Während Lebensmittel und Medikamente weiterhin von und nach Russland geliefert werden können, wird in Europa besonderes Augenmerk auf Produkten der vom Seco herausgegebenen Güterliste, welche dem «Dual Use» – also ambivalenten Einsatzzwecken – dienen. Dazu gehören etwa die Ausfuhr und Vermittlung von Gütern zur Internet- und Mobilfunküberwachung. «Gerade Firmen, deren Güter in den Bereich des Dual Use fallen, müssen momentan sehr vorsichtig sein», weiss Spalinger.
Till Freys eigene Hinreise in die Schweiz führte ihn via St. Petersburg mit zweimaligem Umsteigen, einem Bus nach Helsinki und zuletzt dem Zug nach Zürich, Reisezeit: 22 Stunden. Ob er seine Rückreise nach Moskau anfangs April wie gebucht antreten kann, bezweifelt er. Seine Wohnung möchte Frey, der seit 20 Jahren in Moskau mit C-Bewilligung niedergelassen ist, nicht überstürzt verkaufen – schon gar nicht bei den derzeitigen Wertverlusten.
Frey rechnet damit, dass die Ukraine zum Protektorat Russlands wird. Immerhin: Dass der Kreml nicht mehr auf einer Auswechslung der ukrainischen Regierung besteht, stimmt ihn verhalten positiv. «Aber solange Putin am Ruder bleibt, glaube ich nicht, dass eine einzige Sanktion aufgehoben wird.»

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