Wenn Krankschreiben zur Regel wird
Immer häufiger bleiben Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unternehmen leer – nicht wegen Ferien oder Weiterbildungen, sondern aufgrund von Krankmeldungen. Für viele KMU geht es dabei ums Existenzielle.
24. März 2025
Viele KMU fordern strengere Handhabungen bei Krankschreibungen – zum Beispiel Zweitgutachten.
In vielen Betrieben hat sich die Zahl der Krankschreibungen in den letzten Jahren deutlich erhöht. Besonders in Branchen mit festen Terminen wie der Bauwirtschaft führt das zu massiven Problemen: Pläne müssen kurzfristig umgestellt, Aufträge verschoben und hohe zusätzliche Kosten gestemmt werden. Gleichzeitig beklagen viele Arbeitgeber fragwürdige Arztzeugnisse und fühlen sich machtlos, wenn Mitarbeitende über lange Zeit oder wiederholt krankgeschrieben werden. Sie fordern strengere Kontrollen, um Missbrauch einzudämmen.
Wachsendes Problem
Dabei haben Krankheits- oder unfallbedingte Absenzen enorme wirtschaftliche Folgen: Jeder Fehltag kostet ein Unternehmen rund 600 Franken. Hochgerechnet auf die gesamte Schweizer Wirtschaft geht es um Milliardenbeträge. 2023 fehlten Arbeitnehmende im Schnitt 7,6 Tage – der höchste Wert seit 2010, wenn man die Pandemie ausklammert. Als Hauptgrund nennen die meisten Ver-sicherungen eine starke Zunahme psychischer Erkrankungen.
Neue Normalität?
«Es wird zur Normalität, dass Mitarbeitende fehlen», sagt Paul Mayer, Geschäftsführer der PAMAG Metallbau AG in Marthalen. «Die Hemmschwelle ist gesunken – während der Pandemie hiess es: Bleiben Sie zu Hause. Diese Einstellung hält bis heute an.» Die Zahlen belegen das: Vor Corona lag der krankheits- oder unfallbedingte Arbeitsausfall in seinem Betrieb bei 1000 bis 1300 Stunden jährlich. Während der Pandemie schnellte dieser Wert auf bis zu 2300 Stunden, nach der Pandemie stieg er sogar auf 3000 Stunden im Jahr 2023/24.
«Kranksein darf nicht zum Kavaliersdelik werden.»
Paul Mayer, Geschäftsführer der PAMAG Metallbau AG
Die Folgen für sein Unternehmen – dieses beschäftigt 35 Mitarbeitende – sind gravierend: «Wir arbeiten fast zu 100 Prozent mit Werkverträgen, die zwingende Termine vorgeben. Wenn Mitarbeitende fehlen, wird es zunehmend schwieriger, Projekte fristgerecht abzuschliessen». Oft müssten teure externe Temporärkräfte einspringen – eine kostspielige Notlösung.
Arbeitgeber in der Sackgasse
Er sieht die Hauptproblematik vor allem bei den Ärzten, die häufig sehr schnell und über lange Zeiträume hinweg Krank-schreibungen ausstellen. «Einige Mitarbeitende fallen immer wieder aus, und sobald das erste Arztzeugnis vorliegt, sind sie mindestens bis Ende Woche weg.» Besonders schwierig sei die Situation bei psychischen Erkrankungen: «Wir hatten einen Mit-arbeiter, der über Monate hinweg immer wieder krankgeschrieben wurde. Irgendwann konnten wir uns das nicht mehr leisten», berichtet Mayer. Als der Mitarbeiter schliesslich an den Arbeitsplatz zurückkehrte, sah sich Mayer gezwungen, ihm zu kündigen. Doch kurz darauf legte dieser eine rückwirkende Krankschreibung vor, wodurch die Kündigung unwirksam wurde. «Das Spiel wiederholte sich noch zwei weitere Male», erzählt Paul Mayer. Für viele Arbeitgeber sind solche Fälle nicht nur ärgerlich, sondern auch existenzbedrohend.
Verdacht auf Missbrauch
Selbst wenn die Krankentaggeldversicherung 80 Prozent der Lohnkosten übernimmt, bleiben Unternehmen oft auf erheblichen Zusatzkosten sitzen. Verzögerte Projekte, unvorhergesehene Umstrukturierungen oder gar der Verlust wichtiger Aufträge können zu einer massiven finanziellen Belastung werden. Besonders brisant wird es, wenn sich der Verdacht auf Missbrauch erhärtet. Während Arbeitgeber in solchen Fällen oft machtlos erscheinen, kommt die Frage auf, welche Rolle die Versicherungen dabei spielen.
«Während der Pandemie
Seraina Acker von der AXA
wurde das Bewusstsein für Ansteckungen geschärft. Heute bleiben
Angestellte schneller zu Hause, sobald sie sich krank fühlen.»
Wie gehen sie mit der steigenden Zahl an Krankmeldungen um – und wie reagieren sie auf potenzielle Betrugsfälle? Seraina Acker von der AXA bestätigt den Trend: «Seit 2022 verzeichnen wir insbesondere bei Kurzabsenzen einen deutlichen Anstieg. 2023 blieb das Niveau hoch, zeigte jedoch eine leichte Entspannung.» Auch sie führt dies unter anderem auf ein verändertes Verhalten der Mit-arbeitenden zurück: «Während der Pandemie wurde das Bewusstsein für Ansteckungen geschärft. Heute bleiben Angestellte schneller zu Hause, sobald sie sich krank fühlen.» Um möglichen Missbrauch einzudämmen, setzen Versicherungen verstärkt auf eigene Abklärungen. «In etwa zehn Prozent der Fälle ziehen wir beratende Ärzte hinzu, um die Arbeitsunfähigkeit medizinisch zu beurteilen. Bei konkretem Verdacht auf Missbrauch können wir weitere Untersuchungen anordnen», so Acker.
Ärzte unter Druck
Für den Hausarzt und Mitte Kantonsrat Josef Widler ist eine sorgfältige Abklärung von Krankschreibungen selbstverständlich. Gleichzeitig stellt er fest, dass viele Menschen unsicher geworden sind, wenn es darum geht, ihre Symptome richtig einzuschätzen. «Viele wissen nicht mehr, wann sie wirklich krank sind und wann sie einfach eine simple Erkältung haben. Das führt dazu, dass sie schneller ärztlichen Rat suchen.» Gleichzeitig nimmt er eine steigende Belastung seiner Patienten wahr. «Stress, Überforderung und psychische Beschwerden nehmen zu – das muss man ernst nehmen.» Allerdings gibt Widler zu, dass manche Patienten gezielt eine Krankschreibung fordern, insbesondere bei hoher Arbeitsbelastung oder bei einer erfolgten Kündigung. «Das ist eine Heraus-forderung. Nicht jede Belastung ist eine Krankheit, doch wir müssen aufmerksam sein, wenn jemand an seine Grenzen stösst.» Deshalb sei es umso wichtiger, Krankschreibungen nicht isoliert zu betrachten, sondern auch den Arbeitgeber einzubeziehen. «Ein offener Austausch kann helfen, Lösungen zu finden – sei es durch angepasste Arbeitsbedingungen oder gezielte Unterstützung für den Mitarbeitenden.» Ebenso müsse ein Patient, der über einen längeren Zeitraum arbeitsunfähig ist, mehrfach ärztlich beurteilt werden. «Eine einmalige Diagnose reicht da nicht aus», sagt der Hausarzt.
Was muss sich ändern?
Viele KMU fordern eine striktere Handhabung von Krankschreibungen. «Ärzte müssen sensibilisiert und Arbeitgeber bei längeren Abwesenheiten besser einbezogen werden», sagt Mayer. Ein verpflichtendes Zweitgutachten für Langzeitkranke oder eine Einschränkung rückwirkender Krankschreibungen seien mögliche Lösungsansätze. Auch die gesellschaftliche Akzeptanz häufiger Krankmeldungen müsse überdacht werden: «Kranksein darf nicht zum Kavaliersdelik werden.»
«Je früher die Rückkehr an den Arbeitsplatz, desto besser»
Ein Interview mit Simone Jeanne Isermann von Suva über Herausforderungen rund um das Thema Arbeitsunfähigkeit.
Warum ist eine rasche Rückkehr an den Arbeitsplatz nach einem Unfall oder einer Berufskrankheit so wichtig?
Je länger eine Arbeitsunfähigkeit dauert, desto schwieriger wird die Wiedereingliederung. Studien zeigen: Nach sechs Monaten sinken die Chancen auf eine Rückkehr an den Arbeitsplatz um die Hälfte. Deshalb ist es entscheidend, dass Betroffene möglichst früh wieder beruflich Fuss fassen – selbstverständlich unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Möglichkeiten.
Haben Langzeit-Krankschreibungen in den letzten Jahren zugenommen?
Die durchschnittliche Taggeldbezugsdauer ist leicht angestiegen. Das lässt darauf schliessen, dass mehr lang andauernde Arbeitsunfähigkeiten gemeldet werden. Gleichzeitig sehen wir aber auch einen Anstieg bei sehr kurzen Krankschreibungen – also von wenigen Tagen.
Wie beurteilen Suva-Ärzte die Arbeitsfähigkeit einer Person?
Im Zentrum steht ein medizinisches Leistungsprofil, das auf dem konkreten Verletzungs- oder Krankheitsbild basiert. Dabei wird sowohl das, was die betroffene Person noch kann (positives Leistungsbild), als auch das, was sie nicht mehr kann (negatives Leistungsbild), erfasst. Dieses Profil wird mit den Anforderungen am Arbeitsplatz abgeglichen. Die Differenz ergibt die effektive Arbeitsunfähigkeit.
Kommt es vor, dass ein ausgestelltes Arztzeugnis von der Suva nicht anerkannt wird?
Ja, das kann vorkommen – allerdings nur aus fachlichen oder rechtlichen Gründen. Zum Beispiel, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung nicht Folge eines Unfalls ist oder keine UVG-Versicherung besteht. Auch wenn die medizinische Überprüfung ergibt, dass die Arbeitsfähigkeit wieder voll gegeben ist, wird ein Zeugnis nicht anerkannt.
Was erschwert die Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten?
Oft fehlen ihnen konkrete Informationen zum Arbeitsplatz ihrer Patienten. Dabei sind diese entscheidend für eine realistische Einschätzung. Arbeitgeber wiederum wünschen sich mehr Transparenz über den Genesungsverlauf. Diese unterschiedlichen Erwartungshaltungen führen mitunter zu Missverständnissen – gerade bei belasteten Arbeitsverhältnissen.
Was unternimmt die Suva, um diese Zusammenarbeit zu verbessern?
In mehreren Kantonen gibt es sogenannte «Zusammenarbeitsvereinbarungen». Diese definieren klare Standards für die Ausstellung von Arztzeugnissen, die Kommunikation und den Umgang mit Arbeitsunfähigkeiten. Ziel ist eine kooperative, lösungsorientierte Zusammenarbeit aller Beteiligten – im Sinne einer raschen und sicheren Rückkehr an den Arbeitsplatz.
Sehen Sie generell eine Tendenz zu längeren oder eher kürzeren Krankschreibungen?
Beides. Während die Zahl sehr kurzer Abwesenheiten zunimmt, steigt gleichzeitig die durchschnittliche Bezugsdauer leicht an. Zudem hat sich das Verhältnis von Bagatellunfällen zu Unfällen mit Arbeitsunfähigkeit verschoben – letzteres überwiegt mittlerweile.
Welche Rolle spielen Ärzte dabei?
Eine grosse. Die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit gehört zur Behandlung und beeinflusst den Genesungsprozess mit. Ob Arbeitsunfähigkeit, Teilarbeitsfähigkeit oder volle Belastbarkeit – all das sollte im Dialog mit den Patienten proaktiv besprochen werden.
Gibt es Verbesserungspotenzial in der medizinischen Ausbildung?
Ja. Arbeitsunfähigkeit wird im Medizinstudium kaum systematisch vermittelt. Die Suva bietet deshalb strukturierte Weiterbildungen, Vorlesungen und eine eigene akkreditierte Weiterbildungsstätte an, um junge Fachärztinnen für versicherungsmedizinische Fragen zu sensibilisieren. Denn ein korrekt ausgestelltes Arztzeugnis ist nicht nur juristisch relevant, sondern auch zentral für die Zukunft der Patienten.
Anna Birkenmeier
Redaktion Zürcher Wirtschaft
Ihre Meinung ist uns wichtig
Das Thema ist wichtig.
Der Artikel ist informativ.
Der Artikel ist ausgewogen.