Von der Kantonsschule in die Lehre

Die Ära der Schweizer Textilfabriken und Strick- und Nähkunst, welche die ganze Welt versorgte, ist zwar vorbei. Aber die Schweiz hat immer noch viel kreatives Talent, wenn es ums Kleidergestalten geht. Die Bülacherin Paula Stein vertritt dieses Jahr die Schweiz an den EuroSkills. Das Besondere: Sie begann nach der Kantonsschule eine Lehre.

Die Weggis-Tracht steht im Atelier art da moda im Schaufenster zusammen mit den neusten Modekreationen, die hier entstanden sind. Die stolze Tracht steht nicht nur für lange Tradition, sondern auch für solides Handwerk und Tausende präzise Handstiche. Die Tracht allein lässt erahnen: Hier werden alle Kleider nach Mass und in liebevoller Handarbeit genäht. Geschäftsführerin Manuela Gobetti-Lutz selber ist nicht nur Damenschneiderin, sondern auch diplomierte Trachtenschneiderin für Luzerner Trachten.

Perfekt sitzende, schön gestaltete Kleider waren auch die Motivation für Paula Stein (20), sich trotz Kantonsschulabschluss für eine Lehre als Schneiderin, im Jargon: Bekleidungsgestalterin EFZ, zu entscheiden. Und so ist sie nun im zweiten Lehrjahr im Atelier und lebt während ihrer Ausbildungszeit in Luzern. Ihren Arbeitsweg «vo Luzern uf Weggis zue» bewältigt sie normalerweise per Schiff. Doch bald wird sie gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin Melitta Leu eine viel weitere Reise in den Norden machen: nämlich an die EuroSkills in Herning, Dänemark. Die beiden werden die Schweiz im Bereich Fashion Design and Technology vertreten (s. Box). Doch wie kam es dazu, dass eine Bülacherin im zweiten Lehrjahr mit den Besten Europas mitmischt?

Vorweg: Paula Steins Geschichte ist in mehrfacher Hinsicht untypisch. Sie hat den sehr untypischen Sprung vom Gymnasium in eine Berufslehre gewählt. «Es war schon immer mein Traum, für die Theaterwelt Kostüme zu kreieren. Ich habe mich immer sehr gern verkleidet. Das war der Grund, warum meine Mutter mich in ein Kinder- und Jugendtheater geschickt hat.» Inspiriert von der Theaterwelt, absolvierte Paula Stein zunächst zwar die Kantonsschule Zürcher Unterland. Doch sie war unschlüssig, was sie danach studieren sollte. Sie wollte zunächst ein Zwischenjahr im Opernhaus oder einem grösseren Theater machen, doch ganz ohne Schneidererfahrung konnte sie nirgends einen Praktikumsplatz finden. «So habe ich meinen jetzigen Ausbildungsbetrieb eher zufällig angefragt wegen eines Praktikums. Bei einem Schnuppertag hat das Betriebsklima mir aber ein sehr gutes Bauchgefühl gegeben und auf dem Nachhauseweg wusste ich, dass ich diese Lehre machen möchte.»

Nach der Kanti Lehre begonnen

Sie kenne niemanden, der dem Kantonsschulabschluss eine Lehre angehängt hat. «Einige haben es nicht verstanden. Uns wurde das beim Berufsbildungszentrum auch gar nicht als Möglichkeit vorgestellt. Ich finde aber, man sollte das tun, worauf man Lust hat und wozu einem das Bauchgefühl rät, und nicht darauf hören, was die anderen sagen», so Stein. Kurzum: Sie hat ihren Berufsweg nicht bereut. Dass sie nun bald Lehre und Matura im Sack hat, könne auch Vorteile haben bei der Stellensuche. «Die Kanti vermittelt einem nebst dem kritischen Denken auch ein grosses Allgemeinwissen», sagt Stein. Und: Der Abschluss erlaube ihr, später immer noch Kostümdesign oder etwas ganz anderes zu studieren. Ebenso könne sie jederzeit im Beruf arbeiten, falls die Uni sich dann als falscher Weg herausstelle. «So stehen mir alle Möglichkeiten offen. Ich will sicher studieren, aber momentan bin ich noch nicht sicher, wo und was es sein wird. Ziel ist, mich in meinem Beruf zu spezialisieren.» Kostümbildnerin, ihr Traumberuf, könne in Deutschland studiert werden, in der Schweiz gibt es diesen Studiengang nicht.

Es war schon immer mein Traum, für die Theaterwelt Kostüme zu kreieren.

Paula Stein, Bekleidungsgestalterin EFZ

Ihre Teilnahme an den EuroSkills im dänischen Herning im September kam etwas unverhofft, weil die Schweiz in diesem Skill noch gar nie vertreten war. «Es ist eine Zweieraufgabe. Meine Mitarbeiterin Melitta Leu hatte an den SwissSkills teilgenommen, weshalb sie von den EuroSkills erfuhr.» Obwohl auch sie sich nicht direkt für die EuroSkills qualifiziert habe, hätten sich die beiden relativ spontan und auf Anraten ihrer Arbeitgeberin für die Mission entschieden, denn die Teilnahme ist nur als Duo möglich. «Ich glaube, dass wir gut im Team funktionieren, und für diese einmalige Chance war ich sofort Feuer und Flamme.»

In ihrer Klasse sind 13 Lernende im Jahrgang – diese sind auf drei Ausbildungsbetriebe verteilt. Stein ist die einzige Lernende in ihrem Ausbildungsbetrieb, aber in Luzern bestehe ein noch grösseres Lernatelier. Schweizweit dürften es um die 200 Lernende sein, die jährlich die Lehre abschliessen. «Es ist leider so, dass viele gar nicht auf dem Beruf bleiben, weil es schwierig ist, etwas Passendes in der gewünschten Region zu finden, was sehr schade ist. Andersherum kann es für Schneidereien manchmal schwierig sein, leere Stellen zu decken. Denn es ist ein gefragter Beruf, und nicht viele beherrschen das Handwerk. Und natürlich gibt es noch die Möglichkeit, eine Nische zu suchen.» Bei ihrer Arbeitgeberin stellen die Trachten nebst Massanfertigung und Hochzeitsmode diese Nische dar. Andere vertiefen sich nach der Lehre eher in Richtung Design oder Schnitttechniken. «Mein Plan ist es aber, einmal Kostüme in einem Theater oder Opernhaus zu schneidern. Das sind auch alles Unikate, die auf die Person zugeschnitten sind, die sie tragen.»

Zurück zum Alltag im Atelier. Auch wenn jüngere Generationen eher selten nach Massanfertigungen suchten, sei Couture zu bestimmten Anlässen nach wie vor gefragt. Paula Stein beobachtet gerade den Trend zu Fast Fashion kritisch, meint aber auch, dass als Gegenbewegung vermehrt auf fair produzierte Kleidung, gute Arbeitsbedingungen und umweltfreundliche Herstellung geachtet werde. Allgemein seien vermehrt Änderungen an Kleidungsstücken angesagt. Oder es werde alten Lieblingsstücken, die schon auseinanderfallen, neues Leben eingehaucht. «Die Kunden und Kundinnen kommen mit allem, was mit Stoff zu tun hat, zu uns und lassen es anpassen», sagt Stein. «Gerade bei meiner Generation, die auch Kleider secondhand und aus dem Brocki kauft – im Gegensatz zu Fast Fashion –, ist das ein neuerer Trend.» Das sei einerseits umweltfreundlich und koste anderseits oft immer noch weniger als neue, kurzlebige Ware.

Wettkampf als Duo

Was erwartet sie nun im EuroSkills-Wettkampf in Herning, wo sie gegen meist Ältere antreten wird? So viel ist klar: Das Duo wird unterschiedliche Aufgaben lösen müssen. «Melitta übernimmt mehr den Part der Schneiderin, ich die Rolle der Modedesignerin. Aber wir haben immer die Möglichkeit, uns abzusprechen», weiss Paula schon jetzt. Anderthalb Stunden werde sie Zeit haben für den Entwurf und die Umsetzung einer Modezeichnung (siehe Foto), zweieinhalb Stunden fürs Erstellen eines Schnittmusters auf Papier, und in einem dritten Teil wird sie in dreieinhalb Stunden mit dem Grafikprogramm Illustrator ein Kleidungsstück designen. «Das ist technisches Zeichnen, was die Industrie verlangt», sagt Stein, die sich erst auf die EuroSkills hin mit Illustrator vertraut macht. «Das lernt man in der Lehre nicht, das muss ich mir aneignen bis zum Wettkampf.» Bei einem Wettkampfteil unterstützt sie Teamkollegin Melitta Leu, die bereits vor fünf Jahren die Lehre in Altdorf UR abgeschlossen hat, beim Nähen. «Am letzten Wettkampftag präsentieren wir dann das entstandene Modell, das passgenau auf einer Büste gezeigt werden soll.» Doch mehr dazu, was von ihr gefragt sein wird, erfährt Paula Stein im Mai: «Wir erhalten dann ein Testprojekt mit einigen Informationen zum Wettkampf.»

Bei meiner Generation, die auch Kleider secondhand und aus dem Brocki kauft – im Gegensatz zu Fast Fashion – ist das Ändern ein neuerer Trend.

Paula Stein, Bekleidungsgestalterin EFZ, Bülach

Auch in Modedesign wird vermehrt mit CAD-Programmen gearbeitet. So werden Kleidungsstücke bereits in 3D entworfen. Digitale Skills seien zwar in der Lehre nicht Bedingung. «Aber es ist natürlich von Vorteil, wenn man in Richtung Modedesign gehen will», sagt Stein. Doch Fähigkeiten wie Zeichnen und Kreativität, geschweige denn das Nähen selber, würden nicht ersetzt durch Technologie. «Die Designs sind zwar schon vermehrt digital. Gerade für die Industrie: Man kann dann genauer arbeiten und Masse angeben», sagt die junge Schneiderin. Aber auch bei der Massenproduktion in China seien Fliessbandarbeiterinnen aus Fleisch und Blut an der Maschine. Denn: «Es gibt keine Maschine, die ein Kleidungsstück ganz herstellt.» Doch gerade weil sie keine Massenware produzieren muss, schätzt Paula Stein ihre Arbeit umso mehr: «Wir können das Stück zeichnen, den Schnitt machen, das Ganze dann umsetzen, allenfalls anpassen, wenn es noch nicht perfekt ist. Und das ist recht cool, dass man von A bis Z etwas herstellen kann.» Man spürt: Bei so viel Herzblut sind die Kleider bei ihr gut aufgehoben.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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