Von der Freiheitstheorie in die KMU-Praxis

Aus dem philosophierenden Schreinersohn wurde der KMU-Wirtschaftsjournalist: Marcel Hegetschweiler (42), langjähriger freier Mitarbeiter der «Zürcher Wirtschaft», beschreitet neue Wege. Eine Würdigung.

Bild Mark Gasser

Marcel Hegetschweiler ist Lehrer bei der baugewerblichen Berufsschule BBZ. Und hängt vorerst den Fachjournalismus an den Nagel.

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Marcel Hegetschweiler ist Lehrer bei der baugewerblichen Berufsschule BBZ. Und hängt vorerst den Fachjournalismus an den Nagel.

Marcel Hegetschweilers journalistischer Werdegang beim KGV begann vor genau elf Jahren im Schützenhaus in Oberrieden – also während der Ochsentour des Lokaljournalisten. Für die «Zürichsee-Zeitung» berichtete der Horgemer Hegetschweiler als freier Mitarbeiter über eine Ver-anstaltung, die manche auch mal
als «Hundsverlochete» bezeichnen. Während anderswo der Lokaljournalist als «Schreiberling» und eher misstrauisch empfangen wird, nach dem Motto: «Bratwurst gegen positive Berichterstattung», traf er da auf den Gemeindepräsidenten und damaligen KGV-Geschäftsführer Martin Arnold. «Er kam auf mich zu und meinte: «Melde dich doch mal beim KGV», sagt Hegetschweiler. Beim Bewerbungsgespräch als Freelancer empfing ihn Arnolds Nachfolger, Thomas Hess, sowie der damalige Chefredaktor der «Zürcher Wirtschaft», Thomas Pfyffer.

Sein politischer Hintergrund war damals Thema, erinnert sich Hegetschweiler, der als freier Journalist nach regelmässigen Einsätzen suchte. «Ich hatte ja auch für den ‹Beobachter› geschrieben – der stand eher links.» Dass sein politischer Kompass nach dem Abschluss eines Studiums in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Philosophie interessierte, liegt auf der Hand. «Eigentlich wollte ich ja nach dem Studium Kulturjournalismus machen. Ich besuchte daher oft Veranstaltungen für die ‹Zürichsee-Zeitung›, wollte Konzertkritiken, Essays über Kultur verfassen. Wirtschaft war damals hochlangweilig.» So betrachtete er die Stelle beim KGV zunächst eher als Zwischenstation. Doch bald reizte ihn die Aufgabe, und er wollte mehr über die Herausforderungen der KMU erfahren – von Wissenschaftern, Gewerbevertretern, Verbänden und anderen Organisationen. Zu diesen Problemen gehören etwa der Umgang mit den Mitarbeitenden, die Finanzen, die Preise, der Preisdruck, die Verantwortung, der Stress. «Die Psychologie des Unternehmers, der Unternehmerin, interessierte mich immer am meisten.»

Freiheit statt Verbote

Einer seiner Trümpfe: Auch wenn er sich nicht klar zu einer Partei bekennt, so hat sich Marcel stets mit Freiheitskonzeptionen der politischen Philosophie und mit Liberalismus beschäftigt. Sein Credo: «Ohne Grün gibt es kein Liberal – ohne Liberal kein Sozial.» Schliesslich erfordere auch die Freiheit zuerst eine grüne Lebensgrundlage, «damit sich die Menschheit – egal ob und wie frei sie ist – überhaupt zuerst einmal erhalten kann und nicht ausstirbt». Im gewerblichen Alltag traf Hegetschweiler auf viele Berührungspunkte zu Liberalismustheorien und Freiheitskonzepten. Seine Überzeugung: «Egal, was die Menschen organisieren – sei es ein Markt oder ein Anlass –, sie sollten über möglichst viel Freiheit darüber verfügen.»

Und warum kein Sozial ohne Liberal? «Es braucht erst funktionierende KMU in der Schweiz, um überhaupt Arbeitsplätze und Geld für den Sozialstaat und die Sozialwerke zu erwirtschaften.» Er hält plötzlich inne, schlägt mit schlafwandlerischer Sicherheit die Bundesverfassung auf, wo im entsprechenden Passus im Artikel 41 unter «Sozialziele» steht: Bund und Kantone setzen sich «in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative» dafür ein, dass jede Person an der sozialen Sicherheit teilhat und dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält. Für ihn geht daraus hervor: Der Staat muss die Strukturen schaffen, damit sich die Menschen selbst organisieren können. Dabei muss er auch jenen unter die Arme greifen, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden.

Und was hat das nun alles mit KMU-Wirtschaftsjournalismus zu tun? «Für mich ist völlig klar: Jeder gute Unternehmer ist ein nachhaltiger Unternehmer. Und das haben wir in der Schweiz mit all den Familienunternehmen. Die planen nicht nur jahres- oder quartalsweise für den Shareholder Value. Sondern sie denken für Generationen.» Diese Botschaft versuchte er auch, zu übermitteln.

Die Psychologie des Unternehmers, der Unternehmerin, interessierte mich immer am meisten

Marcel Hegetschweiler, redaktioneller Mitarbeiter «Zürcher Wirtschaft»

Dass Hegetschweiler die Sorgen der Gewerbler versteht und auch noch das Lehrdiplom für allgemeinbildenden Unterricht an Berufsfachschulen besitzt, hat viel mit seinem Vater zu tun. Die Sorgen des Schreinermeisters mit eigenem Betrieb in vierter Generation brachte der Patron täglich mit an den Mittagstisch. «Er liess Dampf ab – und ich bekam als Kind mit, was ein lebendiges KMU mit all seinen Sorgen ist.» All diese Emotionen habe er dann bei der Recherche wiederentdeckt.
Er führt ab und zu auch Gespräche mit Lernenden in seinen Klassen über die Ausbildung in ihren Betrieben. «Von Lernenden in KMU höre ich, dass man in viele Gebiete hineinblicken kann, man bekommt mehr mit von anderen Funktionen, teilweise auch anderen Berufen. Sie haben kürzere Wege, sind näher am Chef.» Bei Letzteren sei hingegen oft der Faktor Zeit sehr knapp. «In einem grossen Betrieb ist dann einer allein für die Lehrlinge delegiert. Oft hört man hier aber auch: ‹Ich bin nur eine Nummer›, die Beziehung zum Ausbildner ist oft nicht so nah wie in einem KMU.»

Gesundheit und Philosophie

Wahlweise näherte er sich für die «Zürcher Wirtschaft» der Versicherungs-, Vorsorge- und Gesundheitsthematik an, weihte die Leserinnen ins neudeutsche Wirtschaftslexikon ein, indem er die Blockchain erklärte, Co-Working Spaces und Roboter auf der Baustelle vorstellte. Folglich machte er schreibend die digitale Transformation und deren Risiken und Chancen mit – buchstäblich: Für einen Erfahrungsbericht in der «Zürcher Wirtschaft» schrieb er während Corona ein Tagebuch über den Fernunterricht an der baugewerblichen Berufsschule.

Statt Schlagzeilen und Klicks zu generieren, sieht er seine Funktion als Servicedienstleister, indem seine Artikel auch Fachleute in ihrem Gebiet weiterbringen sollen. Nach seinen Praktika beim «Beobachter» und bei «Netzmedien» hatte er vom Tagesjournalismus genug. «Ich bin einfach mehr Philosoph und Analytiker als Journalist für die Tagespresse– ich brauche Zeit und muss monatsweise arbeiten.» Auch für andere KMU-Publikationen begann er, als Freelancer zu schreiben. Aber gefragt nach den Highlights seiner Zeit beim KGV, blieb ihm ein Interview mit dem Arbeitsmediziner Dieter Kissling in Erinnerung. Da ging es im weitesten Sinn um die Gesundheit der Unternehmer. Einer der bemerkenswertesten Kernsätze: «Die Freiheit, welche Unternehmerinnen und Unternehmen haben, um sich ihren Arbeitsalltag selbst zu gestalten, ist für ihre Gesundheit förderlich.» Die Möglichkeit, Arbeit flexibler zu gestalten, sei durchs Homeoffice in den letzten Jahren natürlich gewachsen.

Eine weitere Geschichte, an die er sich gern erinnert: Jene über die Einsamkeit der Chefs. Mit wem tauschen sie sich aus? Mit den Ehepartnern? Die wollen vielleicht nicht immer zuhören. Mit den Mitarbeitenden? Die sind in der Kaffeepause vielleicht lieber unter sich. Ein Dilemma. «Oft sind es Netzwerkanlässe, wie sie der KGV veranstaltet, die den Austausch unter Unternehmerinnen und Unternehmern ermöglichen. Das zeigt, wie wichtig ihnen Netzwerke sind.» Hegetschweiler fand dabei auch heraus, was für viele gestandene Unternehmende das Schwierigste war über all die Jahre: die Mitarbeiter zu führen.

Schulentwicklung im Fokus

Sein Entscheid, nicht mehr regelmässig für den KGV zu schreiben, ist nicht ein Entscheid gegen das Schreiben, sondern für die weitere Lehrerkarriere und Familie als Vater zweier kleiner Kinder. «Ich will meinen Unterricht weiterentwickeln, Kapazitäten ha-ben für Aufgaben ausserhalb des Schulzimmers.» Als Lehrperson mit besonderen Aufgaben (MBA) kann er nun die Schulziele mitentwickeln, bei Themen wie verbindliche Standards im Unterricht, gemeinsames Unterrichtsmaterial, interne Abläufe, IT-Herausforderungen mitarbeiten. «Ich will auch meinen Unterricht noch besser, aktueller, effizienter machen.» Und so arbeitet er mit Haut und Haar mit, dem Fachkräftemangel pädagogisch entgegenzuwirken – statt über ihn zu schreiben. «Für mich ist nun die Phase, in der ich mich zum Fachjournalisten ausbildete, abgeschlossen.» So darf er mit gutem Gewissen Rosinen picken – auch für die «Zürcher Wirtschaft».

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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