«Überqualifiziert»? Oder eher unterbrauchbar?
Sie wollen arbeiten, sind aber überqualifiziert.» So steht es oft in Tageszeitungen, jüngst mit Blick auf ukrainische Flüchtlinge, meist bezogen auf immer mehr junge Leute mit Hochschulabschlüssen.
27. Mai 2022 Ludwig Hasler
«Überqualifiziert»? Tönt irgendwie nach überschüssigem Können: zu gut, zu hoch, zu breit gebildet? Wer überqualifiziert ist, kann mehr, als die angebotenen Jobs brauchen? Schön wär’s, läuft dummerweise umgekehrt: Überqualifizierte können nicht, was gesellschaftlich grad gebraucht wird. Brauchen könnten wir Poliere, Informatikerinnen, Köchinnen, auch Lehrer, LKW-fahrer, die könnten gleich morgen antreten, anständig honoriert. Politologen jedoch haben wir momentan reichlich, mit und ohne Dr., auch Kunsthistorikerinnen finden eher gesättigte Stellenmärkte, selbst wenn Bührles Sammlung ihnen als grenzenloses Tätigkeitsfeld vorkommen mag.
«Überqualifiziert» ist eine Schönfärbungsvokabel
«Überqualifiziert» ist eine Schönfärbungsvokabel, die jedem akademischen Zertifikat applaudiert, egal, ob es sich gesellschaftlich fruchtbar machen lässt oder eher hors-sol bleibt, also unfruchtbar. Das ist typisch für die modische Tendenz, Wissen an sich zu überschätzen – und Handeln zu unterschätzen. Was darum schräg wirkt, weil der Mensch doch als Handelnder zur Welt kommt, nicht als Betrachter und spaziergängerischer Analytiker. Nicht als Sammler von Wissensbeständen, sondern als Weltgestalter, Akteur, Mitwirker. «Es gibt kein Glück – ausser im Gebrauch meiner Kräfte» (Arthur Schopenhauer). Im Gebrauch, nicht in Betrachtung. Darum sollte alle Bildung aufs Handeln zielen, nicht auf Wissen.
In dynamischen Zeiten veraltet Wissen immer schneller
Das wird schon schwer genug, wo Berufe ausgebildet werden, die fraglos nötig sind, etwa Ärztinnen, Lehrer. Überall mischen sich – Motto «lebenslang lernen» – praxisferne Disziplinen ein. In dynamischen Zeiten ist es halt so: Unser Wissen veraltet immer schneller – und neues Wissen wächst stets schneller heran. Das holt uns lebenslang zurück in die Schule. Wir rutschen also dauernd retour – in die Lage von Schulkindern. Umso wichtiger wird, dass diese Schule mitten im praktischen Leben steht, nicht auf dem entlegenen Hügel des abstrakten Wissens. Dass sie auf dem Boden der Erfahrung arbeitet, nicht bloss von altem zu neuem Wissen zappt. Vorbildlich, finde ich, macht es Campus Sursee, der in diesen Tagen sein 50-Jahre-Jubiläum feiert. Hier betreibt die Baubranche ihre Ausbildungsstätte. Sie delegiert Bildung nicht an separate Wissensinstitute, nimmt das Ausbilden selber in die Hand – und verhindert so, dass Theorie und Praxis auseinanderdriften. Auf dem Campus verkehren realitätserprobte Praktiker, Innovation wächst aus gesammelter Erfahrung. So vermeidet man das Risiko der Verschulung, die in manchen Branchen offenkundig ist: Schule handelt nicht, sie behandelt nur Modelle der Wirklichkeit. Die Gefahr dabei: Schulische Modelle werden verwechselt mit realen Handlungssituationen, theoretisches Modelldenken überlagert die praktische Berufs- und Lebenswelt. Heraus kämen auch hier: «Überqualifizierte» = Unterbrauchbare.
Ludwig Hasler
Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch
Ihre Meinung ist uns wichtig
Das Thema ist wichtig.
Der Artikel ist informativ.
Der Artikel ist ausgewogen.