sgv-Winterkonferenz: EU, Arbeitsmarkt und Gen Z

Die KMU-Tagung «sgv-Winterkonferenz» im bündne-rischen Klosters fand Mitte Januar zum 74. Mal statt. Durchsetzt waren die Voten und Referate stets von einem Dauerthema: der Akademisierung, die den KMU Fachkräfte entzieht.

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Prof. Dr. Christoph Schaltegger zeigte sich in seiner Keynote zu den «Erfolgsfaktoren der Schweiz» angriffig: «Ein zerrütteter Staatshaushalt passt nicht zu einer gesunden Volkswirtschaft.»

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sgv-Präsident Fabio Regazzi.

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Bankett mit KGV-Beteiligung.

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Yannick Blättler über die Generation Z, dem gesellschaftlichen Wandel und der Arbeitswelt.

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Podium zu den Beziehungen Schweiz-EU.

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sgv-Präsident Regazzi und FDP-Bundesrat Ignazio Cassis.

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sgv-Präsident Regazzi und FDP-Bundesrat Ignazio Cassis im Gespräch.

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sgv-Präsident Regazzi und FDP-Bundesrat Ignazio Cassis im Gespräch.

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Schlittenfahrt zur Alp Madrisa zum Abschluss der sgv-Winterkonferenz

Mit der Botschaft, das Gewerbe sei gestärkt aus dem Wahljahr hervorgegangen, eröffnete Fabio Regazzi, Mitte-Nationalrat und Präsident des schweizerischen Gewerbeverbands (sgv), die 74. Gewerbliche Winterkonferenz in Klosters. In bevor-stehenden Abstimmungskämpfen werde die Stärke und Durchsetzungskraft des sgv gefragt sein – etwa bei der Mediensteuer für Radio und Fernsehen, aber auch unmittelbarerer bei Vorlagen wie der 13. AHV-Rente am 3. März, ein «Prestigeprojekt» der Linken.

Die Winterkonferenz war in der Folge geprägt vom Leitthema «Erfolgsfaktoren der KMU» – und von einigen Ökonomen, die an Kritik am wachsenden Staatsapparat nicht sparten. Einer von ihnen: Prof. Dr. Christoph Schaltegger. Der Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern zeigte sich in seinen Gedanken zu den «Erfolgsfaktoren der Schweiz» angriffig: «Ein zerrütteter Staatshaushalt passt nicht zu einer gesunden Volkswirtschaft.» Für ihn sei das Wesentliche am Staat die Finanzpolitik. «Sie ist die Stärke und Schwäche eines Staates, verdichtet auf das wesentliche.»

Die Schweiz habe ein Ausgabeproblem. «Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.» Die Schuldenbremse habe die Ausgabenlust des Parlaments zwar etwas gebremst, sie sei aber kein Allerheilmittel. «In der schnellen Demokratie reicht alleine das Versprechen. Morgen überprüft niemand mehr die alten Versprechen.» Rund 30000 Franken pro Jahr fliessen pro Kopf an die verschiedenen Staatsebenen – der höchste Wert pro Person weltweit. Seit 1990 haben sich die Bundesausgaben für soziale Wohlfahrt verfünffacht. Problemlos liessen sich auch ohne Reformwürfe 2 Milliarden Franken an Subventionen einsparen. Ebenso müssten Staatsausgaben in Form von Lohnexzessen im Staatssektor gekürzt werden.

Yannick Blättler, Gründer und CEO der Krienser Unternehmungsberatungsfirma NEOVISO AG, stellte anschliessend die Herausforderungen im Umgang mit der Generation Z vor, den Jahrgängen 1997 bis 2012. Er berief sich unter anderem auf eine Arbeitsumfrage von NEOVISO. «Der Arbeitsmarkt spielt den Jungen, ob es uns passt oder nicht, in die Hände.» Es sei eine Generation mit einem starken Wunsch nach Selbstverwirklichung, mentaler Gesundheit und Klarheit im Leben. Dadurch leiteten sich Ansprüche ab wie Sinnsuche und Visionen, Flexibilität, klare Zielvereinbarungen, eine schnelle Weiterentwicklung, Work-Life-Integration, inspirierende Führung und psychologische Sicherheit. «Wohlstand ist normal für die Gen Z, Selbstverwirklichung und mentale Gesundheit ihr Ziel, Social Media ihr Antrieb», stellte Blättler fest. Vor allem letztere bewirkten viel Druck auf die junge Generation. So machten sich schweizweit 53 Prozent Sorgen über mentale Gesundheit, dazu gehört: Arbeitsbelastung, Leistungsdruck in der Bildung, oder «fear of missing out».

Probleme müssten daher auch aus KMU-Sicht anders gelöst, Inhalte anders vermittelt werden. «Sprecht mit den Leuten: Die 22-Jährige versteht etwas anderes unter Flexibilität als der 55-Jährige.» Blättler forderte von den Unternehmen und Verbänden mutiges Voranschreiten als «Change Champions» mit stetiger Offenheit und psychologischer Sicherheit. «Gebt den Jungen so viel Freiheit, aber auch so viel Klarheit wie möglich.»

Benjamin Hügli, Head of Sales von der ManpowerGroup, die vor allem im Temporärbereich tätig ist, stellte die heute auf dem Arbeitsmarkt geforderten Top 5 Soft Skills vor: Kollaboration und Teamwork, Zuverlässigkeit, Lösungsorientiertheit, Kreativität und Begeisterungsfähigkeit. Mehr Arbeitsflexibilität und mentale Fitness haben Priorität, die Trennung von Arbeit und Zuhause, die Kultur am Arbeitsplatz, und Mitsprachemöglichkeiten sind grosse Trends für Arbeitnehmer. Angesichts dieser Bedürfnisse spüre er seitens der Arbeitgeber eine gewisse «Lethargie im Markt», meinte Hügli. So müsse man Talentpools fokussieren, die bislang weniger Beachtung hatten: ältere Mitarbeiter, die das Recruitment aber wenig priorisiere. Gemäss einer Manpower-Studie zur «Silver Workforce» haben es auch die Ü50-Mitarbeiter selber bislang etwas verschlafen, sich weiterzubilden. Und die Frage sei berechtigt: Haben die Unternehmen einen Plan, wie sie diese und ihre Key Skills in den nächsten fünf Jahren (aufgrund der Babyboomer-Pensionierungen) ersetzen wollen? Hüglis Folgerung: Jeder kann ein Talent sein. «Seien wir doch etwas flexibler, wen wir als Talent betrachten.»

Fachkräftemangel

Welche möglichen Lösungen gibt es für KMU rund um das Problem des Fachkräftemangels? Um diese Frage ging es am späteren Donnerstagnachmittag in Klosters. Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), brach eine Lanze für die Personenfreizügigkeit – und die Zuwanderung: «Das Stellenwachstum übersteigt das demografische Potenzial der Schweiz. Die Differenz geht in die Zuwanderung.» Ein Stopp des Beschäftigungswachstums würde aus seiner Sicht dem Geschäftsmodell der Schweiz schaden.

Der Ökonom Reiner Eichenberger, ein bekannter Kritiker der Personenfreizügigkeit und der Zuwanderung, sezierte dann einige Aussagen von Zürcher. Durch stetige Zuwanderung herrsche in zahlreichen Bereichen auch stetig Knappheit und Mangel – der Fachkräftemangel sinke nur, wenn keine Knappheit herrsche. Die Personenfreizügigkeit garantiere sogar eine «permanente Zuwanderung», solange die Schweiz reicher sei als umliegende Länder. «Das heisst, wir sind permanent am Anschlag.» Das Wachstum schaffe Druck auf Land, Infrastruktur, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Umweltziele. Vor allem grosse Firmen mit «Marktschutz» wie eine UBS oder Grossverteiler wie Coop profitierten enorm von der Zuwanderung, da nicht einfach neue grosse Player auftauche. Spitzenfunktionäre in grossen Verbänden und auch in der Politik profitierten ebenso. Zuwanderung bringe Vitamin 3B: «Budget, Bedeutung, Boni». Was sind also Rezepte dagegen? Eichenberger schlug unter anderem «einen Vielarbeitsabzug bei den Steuern» vor, damit es sich wieder stärker lohnt, (viel) zu arbeiten. Als weiteren Lösungsansatz sieht er eine tiefere Besteuerung des Einkommens von Alten, damit diese freiwillig länger arbeiten. Um die Zuwanderung klug zu lenken, plädiert er zudem für einen «Aufenthaltspreis» – eine Art «Kurtaxe» von beispielsweise 5000 Franken. Das würde aber die EU-Freizügigkeit verletzen.

Gegen die Akademisierung

Mehrere Podien mit Unternehmern und Politikern bereicherten die Winterkonferenz. Vier Unternehmer und Verbandsvertreter aus den Branchen Holzbau, IT, Fahrrad und Elektro, stellten einige Best-Practice-Beispiele bei der Rekrutierung vor. Der Tenor: Wenn man wachsen wolle, müsse man die Flexibilisierung an die Hand nehmen – sei das als Viertagewoche, Remote Work oder in anderer Form. «Die Hürden müssen tief sein und der Stellenwert, das Ansehen des Handwerks muss hoch sein», war ein Votum.

Immer wieder war die «Akademisierung» Thema. Bei einem weiteren Podium diskutierten einige Vertreter von Branchenverbänden über «gute Arbeitsbedingungen» und den Umgang mit dem Fachkräftemangel. So meinte Casimir Platzer von GastroSuisse: «Der Staat ist schuld an der Akademisierung, weil er die Akademiker anstellt. Ausserdem nehmen er und die staatsnahen Betriebe uns die Leute weg.» Weitere Treiber des Fachkräftemangels sind aus seiner Sicht der demografische Wandel, der Wohlstand, Frühpensionierungen und Teilzeitarbeiten. Marcel Voyame, Geschäftsführer Verband Sonnenschutz und Storentechnik Schweiz, schilderte die Massnahmen seines Verbands, um den Beruf attraktiv zu gestalten. So wurde die Ausbildung komplett neu gestaltet. Doch sei es nun die Aufgabe, zu transportieren, «dass es die coolste Branche ist». Dabei sprach er vielen Branchen aus dem Herzen.

Beziehungen Schweiz-EU

Der Freitag stand in «Klosters» im Zeichen der Beziehungen der Schweiz mit der EU. Kommt die Schweiz um Europa herum? Stephan Rietiker, Arzt, Unternehmer und Präsident von Pro Schweiz, beleuchtete die bilateralen Beziehung Schweiz-EU vor dem Hintergrund neuer globaler Entwicklungen. «Neue Staatengruppen, Netzwerke und Allianzen gegen die US-Dominanz gewinnen zunehmend an Dynamik.» Die westlich geprägte Ordnung werde vermehrt infrage gestellt. Die krisengeschüttelte EU verliere zunehmend an Gewicht, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. «Die Schweiz sollte sich in Anbetracht dieser unsicheren und volatilen Entwicklungen wirtschaftlich und politisch mehr diversifizieren», fand Rietiker. Er plädierte für eine möglichst hohe Autarkie statt eines Röhrenblicks auf die EU. Und im Hinblick auf das neu aufgegleiste Rahmenabkommen, bei dem Unternehmer und Vertreter der KMU aus seiner Sicht mitreden sollten, verwies er auf die Alternative, mit einzelnen Ländern zu arbeiten, «ohne sich vereinnahmen zu lassen». «Switzerland first» müsse die Devise lauten.

Peter Grünenfelder, Präsident des Automobil-Importeuren-Verbands auto-schweiz, widersprach Rietiker und Eichenberger. Er verwies auf die Handelsbilanz mit der EU und zitierte eine Studie von 2019, wonach über 45 Prozent der Unternehmen die Personenfreizügigkeit und EU-Arbeitskräfte als bedeutend für den Erfolg des eigenen Unternehmens betrachteten. Gegen die Formel «Switzerland first» spreche auch, dass Grossmächte wie die USA ökonomisch weniger abhängig vom Ausland seien als der «Globalisierungschampion» Schweiz.

Gemeinsam mit Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (Die Mitte) und Nationalrat Samuel Jauslin (FDP) diskutierten Grünenfelder und Rietiker danach über «Sinn und Unsinn der Bilateralen» und über das neu aufgegleiste Rahmenabkommen. «Ich schaue Ihnen in die Augen und sage: Es gibt keine fremden Richter.» Das antwortete Bundesrat Ignazio Cassis auf eine Frage aus dem Publikum. Der Vorsteher des EDA hielt zum Abschluss der Winterkonferenz in Klosters eine Keynote. Der Hauptinhalt: Das Verhandlungsmandat zwischen der Schweiz und der EU, welches der Bundesrat Mitte Dezember verabschiedet und in Konsultation gegeben hat.

Der Bundesrat werde die Stellungnahmen bei seiner endgültigen Entscheidung über das Verhandlungsmandat berücksichtigen, die bis März erfolgen werde. Es gehe in den kommenden Verhandlungen darum, aus Landezonen nun Landepunkte zu definieren. Das Verhandlungsergebnis gehe wiederum in die Konsultation, und werde auch dem Parlament vorgelegt. «Dann kommt es vors Volk», erklärte Cassis grob den Ablauf.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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