Nichts ist selbstverständlich

Loslassen ist nicht einfach, vor allem, wenn es um liebgewonnene Selbstverständlichkeiten geht, die eben keine mehr sind. Wer hätte sich vor 3 Jahren eine Pandemie vorstellen können, die unser vermeintlich selbstbestimmtes Leben dermassen verändert? Ganze Branchen sind zur Untätigkeit gezwungen, Freiheitsrechte werden massiv eingeschränkt – wandern statt Städtereise.

Eine weitere Selbstverständlichkeit, dass es nie zu einem Dritten Weltkrieg kommen kann, muss ebenfalls über Bord geworfen werden. Unser westliches Motto «Wandel durch Handel» müssen wir somit einmotten. Das funktioniert in Russland nicht und auch nicht in China.

Vielen Schweizern ist unser Lebensstandard eine Selbstverständlichkeit. Auch diese Annahme ist trügerisch und zeugt von Geschichtsunwissenheit. Wir beschäftigen uns heute aufgeregt um Gendersternchen und Toiletten für eine minimale Anzahl von Leuten, die nicht wissen, ob sie Frau oder Mann sind. Sinnvoll wäre es, etwas Zeit für die Schweizer Wirtschaftsgeschichte aufzuwenden.

Wer stellte im 16. Jahrhundert Baumwollstoffe für die reichen Venezianer her? Genau, die armen, ungebildeten Zürcher in Heimarbeit und für einen Hungerlohn. Der Kanton Zürich als Bangladesch des Mittelalters. Das wissen viele nicht, ist aber so.

«Wer isch uf und davo?» und zwar nicht, um sich selbst zu verwirklichen – und nicht begleitet vom Schweizer Fernsehen: das waren die Reisläufer im 17. und 18 Jahrhundert. Arme Schweizer, die ihr wirtschaftliches Glück im Ausland als bezahlte Soldaten suchten, weil es zu Hause keine Arbeit gab. «Wer isch uf und davo» nach Wisconsin und liess alles in der Schweiz zurück? 150 Glarner Bürger 1845, die aus purer wirtschaftlicher Not in den USA auswanderten und New Glarus gründeten.

Hart erarbeiteter Wohlstand

Was will ich damit sagen? Unsere wirtschaftliche Kraft und Reichtum sind keine Selbstverständlichkeit, sondern mussten hart erarbeitet werden. Aus Platzgründen hier nur ein paar Eckpunkte: Die Industrialisierung anfangs des 19. Jahrhunderts, z.B. mit der Maschinenindustrie wie den Firmen Sulzer und Escher, brachte einen langsamen Aufschwung. 1855 wurde die ETH gegründet, die die Forschung beflügelte und die Schweiz zu einer innovativen Industrienation machte. Es wurde in die Infrastruktur investiert, Strassen wurden gebaut, in nur 10 Jahren standen 1150 Kilometer Schienennetz, 1882 konnte der Gotthardtunnel in Betrieb genommen werden. Finanziert wurde der Tunnel u.a. durch die von Alfred Escher gegründete Kreditanstalt, der heutigen CS. Grundlagen für eine erfolgreiche Teilnahme an der weltweiten Marktwirtschaft waren damit gelegt.

Heute schaffen wir es nicht mehr innert nützlicher Frist, eine Staumauer um einen Meter zu erhöhen, weil es mehr Instrumente gibt, um etwas zu verhindern statt etwas zu bewegen. Im Mai stimmen wir darüber ab, ob die Papis künftig auf Kosten der Arbeitgeber 18 Wochen zu ihrem Nachwuchs schauen dürfen. Unsere Vorfahren waren froh, wenn sie dem Junior einmal täglich einen Hirsebrei auftischen konnten. Ein Blick zurück lohnt sich oft, um heutige Selbstverständlichkeiten eben als nicht selbstverständlich zu erkennen.

Thomas Hess

Geschäftsführer KMU- und Gewerbeverband Kanton Zürich KGV

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