Muss ich nun 100 werden, quasi zum Dank?

Ich bin 76, mit havarierter Lunge. Sogenannt vulnerabel. Verdiene ich nun totalen Schutz? Läden zu, Schulen dicht, Leben einfrieren? Hauptsache, ich überlebe das Virus? Puh, muss ich zum Dank nun mindestens 100 werden? Und falls ich nächstes Jahr sterbe? Wäre auch okay? Bloss nicht am Virus?

«Jeder Tote ist einer zu viel!» Der Satz fällt seit Frühjahr 2020. Stimmt nicht, sagte ich im Interview mit «Blick am Jahresende». Sterben ist normal. Wir alle sind demnächst tot, 100 Prozent. Es mag Virologen beleidigen, wenn ich am Virus sterbe. Gegen die Menschenwürde wäre es trotzdem nicht. Der Skandal ist nicht der Tod, der Skandal ist ein würdeloses Sterben – und ein verpasstes Leben. So argumentierte ich. Das Echo war enorm. Tendenz zustimmend.

Meist dominiert ein anderes Weltbild. Durch viele Köpfe (politische, journalistische) geistert ein neuer Aberglaube: Wir können eine Pandemie bewältigen, ohne dass «etwas passiert». Also ohne dass jemand daran stirbt. Und falls doch jemand stirbt, hat die Politik versagt, sie hatte nicht den Mut zu drastischen «Massnahmen». Oder manche Leute kuschen einfach nicht (Partyvolk, Skifahrer). Es ist der Glaube, jedes Virus liesse sich – mit gutem Willen, bei entschlossener Regierung – unter Kontrolle bringen.

Ziemlich weltfremd. Bald ein Jahr stecken wir im Schlamassel – und noch wissen wir erbärmlich wenig. Wo genau stecken wir uns an? Wer wird krass krank? Und warum? Oder: Warum nicht? Auch die Wissenschaft hat mehr Fragen als Antworten. Ist sogar ihr Job, also keine Schande. Nur taugen dann ihre Experten nicht als Orakel, dem die Politik an den Lippen hängen soll. Politik ist keine Wissenschaft, eher eine Kunst: die Kunst der Balance zwischen Sicherheit und Freiheit. Wer heute fordert, es dürfe «nichts passieren», ruiniert die Balance, setzt Sicherheit absolut. Mit dem Effekt: Es passiert buchstäblich nichts mehr. Das Leben steht still, todsicher.

Kennen Sie Aldous Huxleys «Schöne neue Welt»? Da entscheidet sich eine Gesellschaft radikal für Glück und Gesundheit – und gegen Freiheit. Freiheit habe nichts gebracht als Drama, Unruhe, also weg mit ihr, her mit dem Wohlbefinden, garantiert dank Staat, Hightech, Pharma. «Die Menschen sind glücklich, sie bekommen, was sie begehren, und sie begehren nichts, was sie nicht bekommen können. Es geht ihnen gut, sie sind geborgen, immer gesund, haben keine Angst vor dem Tod. Leidenschaft und Alter sind diesen Glücklichen unbekannt.»

Im Roman rebelliert der letzte Leidenschaftliche, «der Wilde», gegen die Glücks-Diktatur. «Ich will Freiheit», sagt der Wilde. «Wir nicht», versetzt der Weltregent, «uns ist Wohlbefinden lieber.» «Ich brauche kein Wohlbefinden. Ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde.» «Kurzum», sagt der Regent, «Sie fordern das Recht auf Unglück.» «Gut denn», erwidert der Wilde, «ich fordere das Recht auf Unglück.» So ein Pech. Freiheit wollen wir alle – solange wir gegen Unglück versichert sind. Oder täusche ich mich?

Ludwig Hasler

Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch

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