«Mindestlöhne sind keine Armutsbekämpfung»

In Zürich und Winterthur kommt es am 18. Juni zu Abstimmungen über einen Mindestlohn. Die beiden Präsidentinnen der städtischen Gewerbeverbände kämpfen vehement dagegen: Ein Mindestlohn würde die Lehre abwerten und Tieflohnbranchen, in denen die Sozialpartnerschaft gut funktioniert, unterwandern.

Bild Schiess AG/zvg

Die Reinigungsbranche hat vergleichsweise tiefe, aber sozialpartnerschaftlich vereinbarte Löhne.

«Können sich keine Putze mehr leisten, wenn der Mindestlohn kommt». Der Tweet, der auf ein Bild des Referendumskomitees gegen einen Mindestlohn in der Stadt Zürich verweist, kommt von Komiker Mike Müller. Er zeigt, wie grosszügig viele über die vielen Nachteile eines rein städtisch verordneten Mindestlohns hinwegsehen – um die Mär der Armutsbekämpfung zu bewirtschaften.
Nicole Barandun, Präsidentin des Gewerbeverbands Stadt Zürich, reagierte auf den Tweet, in dem despektierlich von «Putze» gesprochen wird. Der Mindestlohn eigne sich schlecht zur Armutsbekämpfung. «Das Problem von Working Poor ist leider – und das ist statistisch erwiesen – nicht die Höhe des Lohns, sondern die Lebensumstände, z.B. weil sie als Alleinerziehende nicht voll arbeiten können und doch für eine Familie aufkommen müssen. Viele Armutsbetroffene sind überdies Selbständigerwerbende. Und denen nützt es auch nichts.» Zudem sei in den meisten Gesamtarbeitsverträgen (GAV) bereits ein höherer Mindestlohn vorgesehen.

Gemäss einer Schätzung der Stadt Winterthur haben knapp 5 Prozent aller Arbeitnehmenden in der Stadt Winterthur einen Stundenlohn unter 23 Franken, das entspricht rund 3600 Personen. Viele davon sind in der Gastro- und Reinigungsbranche tätig.

Reinigungsbranche im Fokus

Eine Arbeitgeberin, die selber in der Reinigungsbranche tätig ist, ist die Präsidentin des KMU-Verbands Winterthur und Umgebung, Désirée Schiess. Den den Mindestlohn zu zahlen, wäre für Arbeitgebende verkraftbar, sagt Schiess. Aber das sei nicht das Problem: Geradezu grotesk ist vielmehr der Umstand, dass in Winterthur zu komplett anderen Bedingungen als in Zürich ein Mindestlohn eingeführt werden soll. «Es macht null Sinn, in Winterthur etwas anderes als in Zürich durchzusetzen. Das gibt einen riesigen Flickenteppich», sagt Schiess. «Es wäre extrem mühsam, wenn ich meinen Mitarbeitenden für Aufträge in Winterthur einen anderen Tarif zahlen müsste als beispielsweise in Seuzach oder Wiesendangen. Administrativ ist das ein Unding.» Manche befürchten auch, dass vermehrt Arbeitsplätze in die Agglomerationen abwandern werden. Aber man müsse nun vermehrt mit solchen Vorlagen von linker Seite rechnen – eine Salamitaktik, die in einem Flickenteppich resultieren würde – als Reaktion auf das Scheitern aller schweizweiten Mindestlohnvorlagen. Zur Erinnerung: Am 18. Mai 2014 ging – ein halbes Jahr nach dem «Nein» zur 1:12-Initiative – die Mindestlohninitiative mit 76,3 Prozent Nein sogar noch klarer bachab.

Désirée Schiess findet klare Worte gegen die Kritik an den tiefen Löhnen in ihrer Branche als Argument für Mindestlöhne: Die Abwertung von Aus- und Weiterbildung und damit auch: des Berufsstolzes liege auf der Hand. «In unserer Branche sehe ich auch die Gefahr, dass ein 16-Jähriger sagt: Da beginne ich lieber direkt als Gebäudereiniger zu arbeiten, als eine Lehre zu absolvieren.» Diese Entwertung der Lehre störe sie an der Vorlage am meisten. «Im Zuge des Fachkräftemangels wäre das Schlimmste, was passieren kann, dass eine ganze Generation sagt: Wir gehen doch direkt arbeiten. Dann fehlen uns noch mehr Fachkräfte.» Die Zahl 3600 oder 5 Prozent der Arbeitskräfte in Winterthur, die Stand heute in den Genuss eines Mindestlohns kommen könnten, würde massiv ansteigen, befürchtet sie – mit anderen Worten: Es gäbe eine Nivellierung nach unten.

Ausserdem sei Gebäudereinigung für viele Immigranten ein klassischer Einstiegsjob. «Man kommt in die Schweiz und kann mit relativ tiefer Ausbildungs- und Sprachhürde einsteigen. So kann man sich etwas aufbauen.» Dasselbe gälte in der Gastrobranche bei den Tellerwäschern oder den Hilfskräften in der Küche. «Working Poor sind schon heute oft Menschen ohne abgeschlossene Lehre. Dieses Problem würde sich bei Mindestlöhnen noch akzentuieren», ist Schiess überzeugt.

Das findet auch GVZ-Präsidentin Nicole Barandun – auch wenn bei der stadtzürcher Vorlage unter 25-Jährige, die über keinen Berufsabschluss verfügen, ausgenommen wären. Ein staatliches Lohndiktat bremse die Mitarbeitenden, statt sie weiterzubringen, und hemme auch die Integration von Migranten in die Berufswelt und über die Berufsbildung. «Ohne Lehre fehlt die Basis für Weiterbildung und für wirtschaftlichen Erfolg. Auch der Anreiz für Weiterbildung geht verloren», so Barandun.

Lehre wird ausgehebelt

Die Löhne insbesondere für Berufsleute mit zweijähriger EBA-Ausbildung, welcher später auch die verkürzte EFZ-Ausbildung angehängt werden kann, wären praktisch deckungsgleich mit dem Mindestlohn – notabene dannzumal ohne notwendige Ausbildung. Nach Anpassungen des GAV in der Reinigungsbranche auf den 1. Januar 2023 liegt nach der EFZ-Lehre der Brutto-Monatslohn bei 4500 Franken, bei einer EBA-Lehre aber nur bei 4000 Franken, das sind 22 Franken pro Stunde. «Da sagen dann potenzielle Lernende vielleicht: ich mache gar keine EBA-Lehre, sondern beginne gleich zu arbeiten.» Viele von diesen würden später eine EFZ-Ausbildung anhängen – dieser Weg wäre ihnen dann verbaut. «Die EBA-Lehre kann man dann eigentlich streichen», so ihr Verdikt. Und nicht nur das: Sogar die gelernten Spezialreiniger mit 4 Jahren Berufserfahrung oder eidg. Fähigkeitsausweis als Gebäudereiniger hätten bei einem aktuellen Stundenansatz von 23.30 Franken keinen Anreiz gegenüber den geforderten 23 Franken Mindestlohn, Ausnahme: bei ersterem gibt es einen 13. Monatslohn.

Und was würde das bedeuten, wenn statt Ausgebildeten immer mehr Ungeschulte mit wenig Karriereaussichten und Antrieb, eine Lehre zu machen, in den Beruf drängen? Inhaltlich werde die Lehre der Gebäudereiniger – etwa die Glasreinigung wegen der zunehmend heiklen, grossflächigen Scheiben – immer anspruchsvoller. Und allgemein sei die Materialisierung wichtig: «Mit dem falschen Reinigungsmittel kann man einen Boden oder eine Oberfläche zerstören.» Sie gibt ein Beispiel: «Wenn man Säure auf einen Natursteinboden (etwa Marmor) tropfen lässt, ist er dahin.»
Das Gewerbe in Zürich und Winterthur führt in seinem Abstimmungskampf gegen Mindestlöhne in den beiden Städten weitere Argumente vor, warum ein Mindestlohn schädlich ist: Er bringe insbesondere den rechtschaffenen, lokalen Unternehmen mehr Bürokratie und Regulierung, statt diese abzubauen. «Und das Ganze für eine Busse für maximal 500 Franken. Wenn man wirklich schwarze Schafe abhalten will, schreckt man mit der Busse gar niemanden ab», so Barandun. Die zusätzlichen Kontrollen führten in den Betrieben zu Mehraufwand. «Mittlerweile ist der Papierkrieg fast nicht mehr zu bewältigen», so Barandun, denn: «In hohem Masse betroffen sind gerade kleinere, inhabergeführte Betriebe».

Zudem seien staatlich festgesetzte Mindestlöhne ein Eingriff in die Beziehung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Löhne werden in vielen Branchen im Rahmen der GAVs ausgehandelt. Auch die Sozialpartnerschaft und die dazugehörigen Regelungen zur Frühpensionierung, Ferienregelungen, Aus- und Weiterbildungen würden ausgehebelt.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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