Mit (und «dank») mehr Sicherheit zu weniger Freiheit

«Der Tod wandert mit im Alpstein.» Sommer-Schlagzeile. Mutter und Tochter stürzten unterhalb der Ebenalp zu Tode. Warum macht man die Wege nicht sicherer, fragten manche, mit Zäunen, mit Fangnetzen? Hat man alles längst versucht – mit zwiespältigen Erfahrungen. Fangnetze? Unfälle ereigneten sich immer da, wo grad keine angebracht waren; den Alpstein flächendeckend mit Fangnetzen absichern ist weder möglich noch wünschbar. Zäune? Gibt es; allerdings gab es auch die Familie, die sich zum Picknick auf den Zaun setzte und den Hang hinunterfiel.

Der Witz ist: Menschen passen sich der Umgebung an. Je sicherer das Gelände wirkt, desto fahrlässiger bewegen sie sich darin. Wer also das gesamte Terrain idiotensicher herrichten will, darf sich nicht wundern, wenn sich alle wie Idioten verhalten – und darauf zählen, im Notfall von der Rega ausgeflogen zu werden. Nicht zufällig meldete der Luftretter diesen Sommer einen tristen Rekord: 2120 Einsätze allein im Juli.

Die Logik gilt vermutlich auf allen Parzellen: Wer sich absichern will gegen jede denkbare Unsicherheit, schafft nur neue Unsicherheit. Beispiel Gesundheit. Nie hätschelten wir unseren Körper wie heute, eifrig begleitet von staatlich verordneter Prävention. Ergebnis: Nie kränkelten so viele. Auch weil das angestrengte Vermeidenwollen von Krankheiten den Typ Hypochonder begünstigt. Der Verhütungsfuror mag manche Erkrankung verhindern – erzeugt aber stets neue Anfälligkeiten. Bald ächzen wir alle unter Allergien. Unser Immunsystem kollabiert. Schuld daran ist das Präventionstheater mit seinem Hygienefimmel. Das Immunsystem funktioniert wie ein Muskel, es wächst nur am Widerstand. Also am Dreck.

Bald wieder aktuell: Helmobligatorium auf Skipisten? Bringt das mehr Sicherheit? Mehr Sicherheitsillusion. Mehr Draufgängertum, mehr Selbstüberschätzung. Helm auf – und ich verwandle mich in einen Kämpfer, brettere umso rücksichtloser zu Tal. Immer mehr Sicherheit, stets weniger Freiheit. Die Summe der Unsicherheit aber bleibt – bestenfalls – konstant.

Der Mensch ist kein vom Himmel gefallener Engel, eher ein Spätausläufer des Affen, die Evolutionsleiter hinan stolpernd. Man kann ihm nun, beim Stolpern, alle Hindernisse aus dem Weg räumen, ihm jede Menge Sicherheitsnetze einbauen. Dann stolpert er seltener, mag sein, er büsst aber auch die Kraft ein, mit Hindernissen fertig zu werden, sie elegant zu überspringen.

Die wirklichen Gefahren kommen sowieso unerwartet: Hirntumor, Erdbeben, Energiekrise, Ehedebakel. Man kann sich natürlich vorsehen, wie Karl Valentin, der mal sagte, er sei in einen Bergwerkstollen umgezogen, das sei zwar unwirtlich, dafür „sicher vor Meteoriteneinschlägen“. Auf den Einwand, Meteoriten seien doch extrem selten, entgegnete er: «Schon, aber bei mir geht Sicherheit vor Seltenheit.» Nur, manchmal läuft man gerade so der Unsicherheit direkt in die Arme. Nach dem 11. September 2001 nahmen ungezählte Amerikaner das Auto statt Flugzeug. Übers Jahr starben 1500 Menschen mehr als sonst auf der Strasse.

Ludwig Hasler

Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch

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