Je smarter die Welt, desto kopfloser wir selbst

Wenn das kein Fortschritt ist! Neuerdings lege ich eine smarte Halskrause um, wenn ich mit dem Velo ausfahre; falls ich stürze, hüllt sie Kopf und Hals im Nu in einen schützenden Airbag, ruft die Rettungssanität, informiert meine Frau. Man kann herummäkeln, eine runde Sache sei das keineswegs: Funktionierte der Airbag garantiert, bräuchte es keine Rettungssanität, keine alarmierte Ehefrau.
Ich finde, das schlaue Halsband zeigt exemplarisch, wie menschendienlich Digitaltechnik angewandt werden kann. Jedenfalls plausibler als bisherige Anwendungen, etwa online Reisen buchen. Früher ging ich ins Reisebüro, buchte die Reise. Heute suche ich einen günstigen Flug. Dann ein passendes Hotel. Lese Bewertungen anderer. Lese noch mehr Bewertungen. Suche Alternativen. Stelle fest: Das Hotel ist inzwischen ausgebucht. Stelle fest: Der Flug dito. Ich rufe das Reisebüro an. Buche die Reise.
So wird immer alles besser – und komischerweise der Aufwand dafür stets höher. Je virtuoser wir auf der Klaviatur der Apps spielen, desto wahrscheinlicher riskieren wir unsere Souveränität – bereits in banalen Situationen, etwa im Alltagsverkehr. Ein Kollege erzählte, wie er nach einem Kongress in Basel zurück nach Luzern fuhr. Auf der Autobahn meldet das Navi: „Achtung, Stau!“ Er überholt noch schnell einen nervig langsam fahrenden Schwertransporter mit Blaulichteskorte, dann schwenkt er ab auf die Landstrasse, fährt da weiter, durch Dörfer, mühsam von Ampel zu Ampel, zwölf Kilometer, sicher eine halbe Stunde, dann zurück auf die Autobahn, da kommt er flott voran. Nach etwa zehn Minuten überholt er einen nervig langsam fahrenden Schwertransporter mit Blaulichteskorte. Der kam ihm bekannt vor. Seither bleibt der Stauwarner auf seinem Navi abgeschaltet.
Da haben wir den Zwiespalt des Fortschritts. An sich ist so ein Stauwarner eine prima Sache, kann uns davor bewahren, stundenlang auf der Autobahn zu stehen. Er kann das Problem, das er beheben will, allerdings auch selbst erzeugen. Der Kollege wich offenbar einem Stau aus, den es nicht mehr gab. Und stand im Stau, der nur entstand, weil mit ihm viele andere dem Stauwarner blind vertrauten.
Blind? Die Technik kann nichts dafür. Es liegt an uns. Wir geben immer mehr Entscheidungen an Digitalgeräte ab – im Glauben, so könnten wir uns das Denken ersparen. Nur, Digitalgeräte denken nicht, sie registrieren bloss Daten, Signale von Sensoren etwa, die ein stets engeres Netz über den Planeten ziehen. Der Stauwarner produziert keine Falschmeldung. Im Moment seiner Durchsage, also real time, deuten sämtliche Signale auf Stau. Reagieren wir kopflos darauf, ist das nicht seine Schuld. Höchstens indirekt: Wir folgen bald in allen Lagen digitalen Anweisungen – und vernachlässigen das Denktraining, wir verlernen, uns selbst zu orientieren.
Die Wirkung wird bereits messbar: Seit Jahren sinkt der IQ. Und das ist noch der doofste Index. Dennoch darf wohl gelten: Je smarter die Umwelt, desto bescheidener unsere Schlauheit.

Ludwig Hasler

Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch

Ihre Meinung ist uns wichtig

Das Thema ist wichtig.

icon_thumbs_up
icon_thumbs_down

Der Artikel ist informativ.

icon_thumbs_up
icon_thumbs_down

Der Artikel ist ausgewogen.

icon_thumbs_up
icon_thumbs_down