Hitliste der Verbotskultur

Zum 17. Mal vergab die IG Freiheit den «Rostigen Paragraphen» für das überflüssigste Gesetz oder den unsinnigsten Vorstoss des Jahres. In diesem Jahr erhält Nationalrat Balthasar Glättli die Auszeichnung für seinen Vorschlag, das Klima durch eine Reduktion der Arbeitszeit zu schützen.

Bild M.G.

Das Online-Voting des «Rostigen Paragrafen» fiel relativ klar aus

Unnötige, überflüssige oder angestaubte Paragraphen und Regulierungen tangieren auch oder vor allem das Gewerbe. Obenaus auf diesem Papierberg «Rostiger Paragraphen» schwang für die überparteiliche Vereinigung IG Freiheit mit Präsident Gregor Rutz (SVP) dieses Jahr ein Grüner Vorschlag für ein besseres Klima: Der diesjährige «Rostige Paragraph» geht diesmal an den Zürcher Nationalrat Balthasar Glättli. Die Preisverleihung fand im Zürcher «Aura» vor rund 300 Gästen statt. Mit dieser Auszeichnung sollen die Öffentlichkeit, vor allem aber auch Politiker und Verwaltung, auf die unzähligen unnötigen bürokratischen Regulierungen aufmerksam gemacht werden. Der Sieger wurde im Rahmen eines öffentlichen Internet-Votings ermittelt. Nationalrat Glättli hatte vom Bundesrat einen Bericht gefordert, in dem aufgezeigt werden soll, ob eine Reduktion der Arbeitszeit sich positiv aufs Klima auswirkt. Freilich meinte Glättli damit nicht das Arbeitsklima. Das verleitete Moderator Reto Brennwald zur Feststellung: Um das Klima zu retten, müsse man sich nicht mehr auf die Strasse kleben. «Wir müssen einfach länger schlafen.»

Reduktion der Arbeitszeit zur Erreichung der Klimaziele


Konkret schlug Glättli in einem parlamentarischen Vorstoss vor, zu prüfen, ob eine generelle Reduktion der Arbeitszeit zur Erreichung der Klimaziele beitragen kann. Weiter sollen Begleitmassnahmen wie ein Minimal- und Maximallohn oder die zusätzliche Besteuerung CO2-intensiver Tätigkeiten ins Auge gefasst werden. Glättli stand Moderator Reto Brennwald in einem aufgezeichneten Interview Red und Antwort und jubelte demonstrativ nach Verkündung seines Sieges. Die Überlegung hinter Glättlis Vorstoss: Wer frei hat, soll (unter anderem) im Berufsverkehr weniger Strassen verstopfen, und wer im Bett liegen bleibt, soll weniger Ressourcen verbrauchen. Ob freilich jeder privat weniger CO2 ausstösst als wenn er arbeitet, war eine (wohl berechtigte) Frage, die im Publikum zu reden gab.

WC-Willkommenskultur

Unter die ersten drei schaffte es ein weiterer Grüner Vorstoss der Zürcher Gemeinderäte Anna-Béatrice Schmaltz und Urs Riklin. Sie forderten «Offene Toiletten für alle». Konkret sollen Toiletten von Restaurants und Ladengeschäften für jedermann kostenlos und ohne Konsumationspflicht zugänglich sein. Dies trotz dem 271-seitigen «Masterplan Züri WC» und 107 öffentlichen Toiletten-Anlagen in der Stadt Zürich. Dass die Züri WC’s nicht in allen Stadtteilen gleich verteilt und nicht allen zumutbar sein sollen – etwa Familien mit Kindern –, war offenbar Grund genug für den Vorstoss. Dafür sollen Gastronomen von der Stadt für ihre offenen WC’s entschädigt werden. Bei der im Video eingeblendeten Strassenumfrage durch die IG Freiheit meinte ein Wirt kopfschüttelnd: «Das wäre eine Katastrophe für uns.» Beide Initianten waren ins «Aura» gekommen, um sich den kritischen Fragen von Moderator Brennwald zu stellen. Es sei gerade in Aussenquartieren Zürichs nicht gut bestellt um die WC-Dichte, meinte etwa Gemeinderat Urs Riklin. Um nicht noch mehr Züri-WC’s zu bauen, sei das ein guter Kompromiss.

Gesichtslose Samichläuse?

Als noch «rostiger» taxierten die Abstimmenden einen von vielen Versuchen, Werbung und Marketing zu verbieten oder einzudämmen: Die Weltgesundheitsorganisation WHO findet nämlich, dass Schoggi-Samichläuse kein Gesicht mehr haben sollten. Gefährlich sei die Verlockung des sympathischen Gesichts, dessen Menschlichkeit etwa Kinder «zu unnötigem Konsum verleitet». So empfiehlt die WHO, Gesichter auf Samichlaus-Verpackungen entfernen zu lassen. Dadurch würden die Produkte weniger gekauft, was sich bereits in ersten südamerikanischen Ländern gezeigt habe. Solche attraktiv verpackten Süssigkeiten seien mitverantwortlich für die Fettleibigkeit weltweit. Alois Gmür, Nationalrat (Die Mitte) und IG-Vorstandsmitglied, hatte wenig Verständnis fürs Gesichtsverbot für Chläuse und plädierte für deren Entstigmatisierung als «Dickmacher». Er sei selber als Samichlaus unterwegs, und da sei der Augenkontakt mit den Kindern wichtig. Ob aus Fleisch und Blut oder aus Schoggi: Das Chlausgesicht zu anonymisieren, ist aus (IG-)freiheitlicher Sicht unappetitlich. Die Quittung: Für die Samichlaus-Gesichtszensur «verdiente» sich die WHO den ehrenwerten zweiten Platz mit 24 Prozent der Onlinestimmen.

Abermals Werbeverbote

Ungesund sowohl für Klima wie Mensch sind laut der Waadtländer Bürgerbewegung «Agissons» aufdringliche Werbeplakate. So fordert die welsche Organisation: Wer grosse, aggressive Werbekampagnen schaltet, soll über eine progressive Werbesteuer zur Kasse gebeten werden. Mit dem Geld soll ein Fonds zur Klimarettung geäufnet werden. Nach dem Bonmot «der Appetit kommt beim Essen» erörterte deren Vertreter Simon Berthod die Aufdringlichkeit der Werbung. Auf dem letzten Platz landete ein alter Paragraph aus dem Thurgau, der unbemerkt Staub angesetzt hatte: Gemäss Thurgauer Einführungsgesetz zum StGB wird gebüsst, wer «gewerbsmässig den Aberglauben, aber auch die Leichtgläubigkeit anderer» ausbeutet. Die Regierungsrätin Cornelia Komposch deutete an, den Paragraphen gelegentlich zu löschen.

Vollkaskogesellschaft


Umrahmt wurde die Veranstaltung vom Podiumsgespräch mit Nebelspalter-Journalist Dominik Feusi, der Ökonomin Alexandra Jansen (die selber einst eine Maturarbeit über die Sauberkeit öffentlicher Toiletten schrieb) sowie Dieter Bachmann, dem CEO der Gottlieber Spezialitäten AG. Sie diskutierten über Verwaltungswachstum, Bürokratie und die (teilweise selbstverschuldete) Verkomplizierung der Finanzindustrie und Lebensmittelgesetzgebung. «Man traut dem Bürger nicht mehr zu, dass er weiss, was richtig ist», meinte Bachmann stellvertretend und mit Verweis auf die Verbotskultur. In der Vollkaskogesellschaft sei der Wille nicht erkennbar, die Bürokratie abzubauen und aus Fehlern zu lernen, statt alles zu kontrollieren.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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