Gesundheit, unsere Restgöttin, macht uns arm – und krank

In der Gesundheitsbranche ist alles knapp. Notstand in der Pflege, bei Ärztinnen, in der Spitalkasse. Einzig Patienten sind üppig da.

Derzeit rennen Patienten Arztpraxen ein. Weil sie ihr Fett loswerden wollen (dank Spritze). Weil sie nicht schlafen können. Weil diffuse Kopfschmerzen sie schrecken, o Gott, sie könnten am Ende ja noch sterben. Zur Sicherheit suchen manche gleich bei drei, vier Ärzten Trost und Rettung, es herrscht ja «freie Arztwahl». Das strapaziert die Kosten – und die Gesundheit.

«Gesundheitsparadox»

Wir stecken im «Gesundheitsparadox»: Wir leben stets gesünder – und fühlen uns immer kränker. Wir achten penibel darauf, clean zu leben, und merken erst recht: So wenig bedarf es, sich krank zu fühlen; ein Kratzen im Hals, ein Stechen im Kreuz, ein Pochen im Kopf, das stellt sich schnell ein, wenn der Schlaf knapp, der Lifestyle stressig, der Chef nervig ist. Aber ist das krank? Dazu kommt: Medizin macht Fortschritte. Beispiel Krebsforschung. Ein Onkologe erzählt mir, noch vor Jahren habe er gedacht, in Tumormedizin kenne er sich aus, heute sei er froh, bei Lungenkrebs up to date zu sein. Auf seiner onkologischen Abteilung beschäftigt er inzwischen fünf Kollegen mit Spezialkenntnissen. Ergo: Immer mehr Krebsgeschwüre lassen sich immer besser behandeln. Prima: Neu sterben mehr Menschen mit Krebs als an ihm.

Lebenszeit

Halt nicht gratis. Auch unsere Lebenszeit dehnt sich aus. Siehe David Sinclair («Das Ende des Alterns»): Leute, die 150 werden, leben bereits unter uns. Dank epigenetischer Medizin. Auch nicht umsonst. Schon weil wir für 150 Jahre etwas altmodisch angeliefert sind. Bis nur unsere Hüftgelenke merken, dass sie ein paar Jahrzehnte länger halten sollten, dauert es wohl noch eine Million Jahre, und bis dahin boomt zwangsläufig (nicht nur) die Reparaturmedizin. Können wir uns dies leisten? Vertrackte Lage: Medizin offeriert Therapien (Gentherapien, CRISPR) – und wir können sie nicht bezahlen. Die sind so sündhaft teuer (nicht weil die Hersteller Absahner wären), dass sie wohl nur für Milliardäre taugen. Spätestens hier geht unserer Mogellösung – staatlich verbilligten Prämien – die Luft aus.

Himmelsfreuden

Brenzlig. Medizin (too big to fail) soll richten, was die Moderne verheisst: dass unser Leben stets besser werde. Dass wir keine Götter brauchen, um erlöst zu werden. Einst war Medizin da, um Krankheiten zu heilen, so gut es halt ging. Heute ist sie für Miseren aller Art zuständig. Einst entschädigte die Aussicht auf Himmelsfreuden für irdische Strapazen. Heute übernimmt Medizin. Medizin als Religionsersatz. Von ihr erwarten wir mehr als Therapie von Krankheiten: Reparaturservice bis zum Ende. Salbung von Verbitterungsgefühlen. Korrektur unpassender Körperlichkeit. Optimierung der Lebenslust. Kurz: Erlösung von allen Übeln. Medizin als Restgöttin. Können wir uns das leisten? Seit wann fragt man Religionen nach Kosten? Der Meisterstreich wäre natürlich: Freundschaft mit der Endlichkeit! Zu altmodisch? Aber gesund!

Ludwig Hasler

Philosoph, Physiker, Autor und Menschenkenner lhasler@duebinet.ch

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