Flache Hierarchien: Eine neue Ära in der Unternehmensführung

In flachen Hierarchien wird die Verantwortung auf alle Mitarbeitenden verteilt. Es wird da entschieden, wo die Fachkompetenz am grössten ist – losgelöst von klassischen Organigrammen.

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Je nach Projekt werden die Mitarbeitenden zu Leadern oder Followern

Zu den Zeiten der Firmengründer und Patriarchen, die ihr Unternehmen praktisch aus dem Nichts zu Grosskonzernen machten, war von flachen Hierarchien noch nicht die Rede. Obwohl sie flach waren und die Patrons als eine Art Feldherren an der Spitze vorangingen. Den Worten und den Anordnungen der Chefs (Chefinnen konnte man sich noch gar nicht vorstellen) wurde nicht widersprochen und wenn, dann nur schweigend. Das gilt für einen Gottlieb Duttweiler, fast schon ein Volkstribun, dessen Geschichte bereits genügend erzählt wurde. Für Charles Vögele, der vom Schuhmacherbub zum Patron des grössten Kleiderverkäufers der Schweiz wurde. Das Unternehmen ging erst bankrott, als es nach dem Börsengang längst nicht mehr flach geführt wurde und der Gründer bereits verstorben war. Und auch für Nicolas Hayek, der als geachteter Patron Swatch zum Sieben-Milliarden-Konzern formte. Viele Einwände duldete auch er nicht.

Chefs vertreiben Mitarbeitende

Vor solchen verkrusteten Führungsstrukturen würden die neuen Generationen, ob Y oder Z, wohl schnell Reissaus nehmen. Sie wollen Verantwortung übernehmen, an ihren Fähigkeiten gemessen werden und ihren Job ausüben, ohne eine Erbsenzählerin oder einen Kontrollfreak vor der Nase, die sich im Fachbereich oft weniger gut auskennen. So verwundert es nicht, dass schlechte Chefinnen und Chefs als hauptsächlichster Grund genannt werden, wenn fähige Mitarbeitende das Unternehmen verlassen. Ständige Kritik, Schuldzuwei-sungen, fehlende Empathie und Überforderung machen den Mitarbeitenden das Leben schwer. Solange, bis sie die Konsequenzen ziehen und gehen. Aber auch «gute» Vorgesetzte filtern letztlich die Möglichkeiten der einzelnen Mitarbeitenden, die in ihrer fachlichen Rolle dem Unternehmen mehr bringen könnten. Höchste Zeit also, klassische Organisationsstrukturen zu hinterfragen und aufzulösen.

Ohne Geschäftsleitung

So hat beispielsweise Freitag Taschen bereits 2016 Holacracy als organisatorisches Betriebssystem eingeführt. Holacracy heisst: Autorität ist quer durch die ganze Firma in Form von Rollen verteilt, anstatt sie bei den persönlichen Vorgesetzten zu bündeln. Chefinnen und Chefs gibt es also im klassischen Sinne nicht mehr; Entscheidungen werden im Rahmen der Verantwortlichkeiten getroffen. Dadurch ist die Hierarchie im eigentlichen Sinne nicht abgeschafft – aber sie wird aus den fachlichen Rollen herausgetragen und ist so über das ganze Unternehmen verteilt. Ausgangspunkt war unter anderem auch die Erkenntnis, dass Hierarchien die Kreativität und die Schaffenskraft der Mitarbeitenden unnötig einschränkte und die Power des einstigen Startups durch die stetig gewachsenen Hierarchien verloren ging. So wurde auch als eine der ersten Massnahmen die Geschäftsleitung aufgelöst. Auch Matthias Mölleney, Inhaber der Beratungsfirma people Xpert gmbh, sieht in flachen Hie-rarchien grosses Potenzial. «In modernen Organisationen werden die Entscheidungen möglichst genau dort getroffen, wo sie gebraucht werden. Und es werden dabei die Mitarbeitenden eingebunden, die bei der Entscheidungsfindung einen Mehrwert bringen können. Insofern kann schneller entschieden werden und es wird trotzdem gut abgestützt entschieden», sagt er.

Kein Wundermittel

«Es gibt kein Wundermittel in der Personalführung, und doch verändert sich Leadership stark in flachen Hierarchien. Führungskräfte müssen Macht abgeben und egobefreit führen lernen», sagt Martin Eisenhut, Leiter Organisationsentwicklung bei Transa Backpacking AG, Anbieterin von Travel- und Outdoorausrüstungen. In Selbstorganisation werde da entschieden, wo die Fähigkeit am höchsten sei. Die Verantwortung werde verteilt und alle Mitarbeitenden würden so zu Followern und Leadern. Dazu sei es nötig, neue Muster und Praktiken zu erlernen, die dann die alten überflüssig machen. Das sei auch anstrengend und aufwendig. Über die Zeit kämen die Vorteile und Freiheiten aber klar zum Vorschein, ergänzt Eisenhut.

Nicht alle Chefposten aufgelöst

Flache Hierarchien heisst bei Transa aber nicht, dass alle Chefpositionen aufgelöst worden sind. Leadership ist nun wichtig in der Selbstorganisation, aber eben anders als in klassischen Organisa-tionen. Auf Führungsaufgaben ist man nach wie vor angewiesen; diese sind aber in Rollen verankert, in denen auch die Verantwortlichkeiten klar beschrieben sind. «Wer sich selbst gerne fordert und gleichzeitig Veränderungen vorantreiben möchte, wird sich in diesem Arbeitsumfeld von Struktur und Freiheit sehr wohl fühlen», ist Eisenhut überzeugt. Und wenn Mitarbeitende sich in den Bereichen einbringen können, in denen sie Fähigkeiten haben und Entwicklungsmöglichkeiten bestehen, bleiben sie dem Unternehmen auch länger treu. Flache Hierarchien einzuführen heisst auch, Chefs und Chefinnen in der aktuellen Struktur zu degradieren. Wie geht da ein Unternehmen vor? Wie wird eine Person begleitet, die von der Chefin zur Kollegin wird? «Das ist der grösste Schwachpunkt bei den meisten Transformationen von traditionellen Hierarchien in flache Organisationen», sagt Matthias Mölleney. Sehr oft werde mit den Führungskräften, die ihre Funktion verlieren oder deren Aufgaben sich zumindest grundlegend verändern, gar nicht oder zu wenig gesprochen. Wenn man verhindern wolle, dass sie die Veränderung blockieren, müsse man mit ihnen neue Perspektiven erarbeiten und sie auf neue Rollen sorgfältig vorbereiten.

Gerold Brütsch-Prévôt

Redaktioneller Mitarbeiter Zürcher Wirtschaft

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