«Einige Berufe könnten zu wenig schnell verschwinden»
Ein Gespräch mit dem Bildungsökonomen Stefan C. Wolter über technologische Revolutionen, Ökonomie und Nachhaltigkeit in der Bildung, die Durchlässigkeit des Systems und künstliche Intelligenz im Klassenzimmer.
20. September 2024 Mark Gasser
Stefan Wolter: «Die ganze Bildung in der Schweiz ist mit Steuergeldern finanziert. Das ist nicht eine Effizienz-, sondern eine Gerechtigkeitsfrage».
Stefan Wolter: «Die ganze Bildung in der Schweiz ist mit Steuergeldern finanziert. Das ist nicht eine Effizienz-, sondern eine Gerechtigkeitsfrage».
Das pompöse Francke-Gut, eine Villa im Stil der Neurenaissance, lässt auf den ersten Blick eine Altersresidenz eines reichen Ehepaars, ein rustikales Hotel oder allenfalls eine verstaubte Bibliothek vermuten.
Aber hier mitten in Aarau, abseits des Stadtlärms, ist die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) zu Hause. Die Institution wird vom Bund und von der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) geführt und unterhalten. Ihr Auftrag: Sie beleuchtet das Bildungssystem unter den Kriterien Effizienz, Effektivität und Chancengleichheit – was die einen dazu verleitet, stets von einem harten ökonomischen Massstab zu sprechen. Aber Ökonom und Professor Stefan C. Wolter, Direktor des Instituts, winkt ab: «Meine Mitarbeitenden sind nicht nur Ökonomen: Hier arbeiten auch Politologen, Soziologen, Erziehungswissenschafter. Sie kommen aus allen relevanten Disziplinen für die Bildungsberichterstattung.» Und er klärt gleich die oft missverstandenen Kriterien: «Effektivität richten wir nicht an der Ökonomie aus. Sondern an den politischen Zielen.» Zu diesen politischen Zielen gehört in der Volksschule, dass die Abgänger mit genügend Kompetenzen die Schule verlassen. Aber Effizienz? «Nein, auch das ist nicht ökonomisch gedacht. Es geht nicht nur um monetäre Kosten der Ausbildung, sondern vor allem um Zeit.» Bei einer vierjährigen Lehre, die in drei Jahren hätte absolviert werden können, ist das Kriterium der Effizienz nicht erfüllt und der Lernende hätte beispielsweise noch eine Sprachreise machen können.
Nachträglich Studium besteuern
Und an der Chancengerechtigkeit oder Equity sei nichts Ökonomisches. «Die ganze Bildung in der Schweiz ist mit Steuergeldern finanziert. Das ist nicht eine Effizienz-, sondern eine Gerechtigkeitsfrage.» Das ruft vor allem eine Forderung Wolters und seiner Kollegin Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsmarktökonomie in Basel, in Erinnerung: nachgelagerte Studiengebühren.
Die Grundannahme: Wer von einer mehr oder weniger kostenlosen höheren Bildung profitierte, wird später auch mehr Steuern bezahlen. So weit der Normalfall. Jene aber, die nach dem Studium nicht voll arbeiten oder nicht im studierten Beruf und daher nicht gemäss ihrer eigentlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Steuern bezahlen, sollen – je nach Höhe der Steuerrechnung – nachträglich ihre Studiengebühren bezahlen. Eben wurde ein Manifest von Ärzten publik, die eine ähnliche Idee verfolgen – aus Verzweiflung wegen der Nachwuchssorgen und Gesundheitskosten. Es gehe bei der schulischen Ausbildung so gesehen um Nachhaltigkeit.
ChatGPT und solche Modelle spielen dem Hirn einen Streich, weil sie sowohl die Motivation als auch die Lernfähigkeit massiv reduzieren.
Stefan C. Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF)
Aber in seinen Vorlesungen an der Uni Bern gehört eben auch der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Bildung zu den ersten Lektionen, die Stefan Wolter seinen Studierenden vermittelt: «Es ist ein Kreislauf. Bildung kostet enorm viel Geld. Irgendwoher muss das Geld kommen. Die Hoffnung ist damit verbunden, dass Bildung Wohlstand schafft, indem sie die Kompetenz des Menschen steigert. Diese wiederum steigert die Produktivität und mit der Produktivität steigt das Wirtschaftswachstum. Und mit dem Steuersubstrat finanziert man wiederum die Bildung der nächsten Generation.»
Dass er von einigen Kritikern und Medien als neoliberaler Ökonom dargestellt wird, stört den 58-jährigen Wolter daher wenig. Das sei auch nicht das Ziel des alle vier Jahre erscheinenden Bildungsberichts: «Es ist ein Bericht, der für politische Exekutiven verfasst wird. Auftraggeber sind 26 Regierungsräte und der Bundesrat. Das heisst: Sie müssen Steuerungswissen haben.»
95-Prozent-Quote als Ziel
Die daraus abgeleiteten Ziele blieben über die Jahre jeweils sehr konstant. Eines der aktuell acht Ziele hält sich seit der ersten statistischen Überprüfung des Bildungswesens 2006: Mindestens 95 Prozent der Einwohner sollen im Alter von 25 Jahren über einen nachobligatorischen Schulabschluss verfügen (Sekundarstufe II), sei dies ein Lehrabschluss oder ein Abschluss eines Gymnasiums oder einer Fachmittelschule. «Wir liegen zwischen 91 und 92 Prozent – deshalb bleibt es auch ein Ziel.» Eine weitere Zielerklärung: Es gilt, die hohe Dropout-Quote an Universitäten zu reduzieren, ohne die Qualität der Ausbildung zu gefährden. Fast ein Viertel der Studenten schliessen das Universitätsstudium nicht ab. «In einem System, das eine der tiefsten Maturaquoten der Welt hat und in dem zusätzlich weniger als 80 Prozent der Maturanden an die Uni gehen, von denen wiederum ein Viertel nicht abschliesst, ist das zu viel.»
Tertiarisierung statt Akademisierung
Die Zunahme der tertiären Bildungsabschlüsse in der Schweiz ist ein Erfolg fürs Bildungssystem und zeugt von dessen Durchlässigkeit, ist für Wolter klar, denn mehr als die Hälfte dieser tertiären Bildungsabschlüsse wird von Menschen gemacht, die nicht über das Gymnasium an die Hochschule kamen, sondern über eine Lehre. Mit dem Berufsabschluss könnten sie auch ohne weiteren Bildungsabschluss arbeiten. «Sie verzichten freiwillig auf mindestens drei Jahre Einkommen.» Ein Fachhochschulstudium mit einem Bachelorabschluss erfordert drei Jahre Studium. Sie machten sich also die Überlegung, ob es ihnen etwas bringt, und achteten auf die Signale des Arbeitsmarktes.
Während vor allem von Zugewanderten die Qualität des Schweizer Berufsbildungswesens oft unterschätzt wird, so unterschätzten auch – meist ältere – Schweizer häufig dessen Durchlässigkeit. In der Schweiz ist auch eine akademische Laufbahn für Leute möglich, die zuerst eine Lehre gemacht haben.
Gut fürs Image der Berufslehre sind glanzvolle Leistungen auf internationaler Bühne bei Berufsmeisterschaften: Diese «Demonstration von Exzellenz» entfalteten oft auch sehr direkt Wirkung: Die Zahl der unterschriebenen Lehrverträge in der jeweiligen Berufsrichtung stieg um nachweisbare 2,5 Prozent an, wie eine Analyse von Wolter und Daniel Goller ergab. Auch Berufsmessen zeigten Wirkung. Dennoch sei es ein harter Konkurrenzkampf auf dem Lehrstellenmarkt. «Und man kämpft nicht nur unter den Berufen, sondern auch gegen andere Bildungsformen wie Gymnasien und Fachmittelschulen mit deutlich mehr Ferienwochen.»
Berechtigte Angst vor KI?
Auch der Digitalisierung kam im letzten Bildungsbericht vom März 2023 ein prominenter Teil zu. Doch Wolter beschäftigt aktuell in seinen Vorlesungen ein virulentes Thema, das noch nicht Eingang in den Bericht gefunden hat: KI und der Arbeitsmarkt. Gerade mit neuen Textgeneratoren wie ChatGPT sei die Diskussion wieder ins Rollen gekommen, ob die Künstliche Intelligenz (KI) ein Gamechanger sei. Im Gegensatz zum Wandel, den die Automatisierung schon vor Jahrzehnten eingeleitet hat, kämen heute zusätzlich auch viele Berufe unter Druck, welche geistige Nichtroutinetätigkeiten verlangten, also eher kreative Berufe. Wenn aber handwerkliche (Nichtroutine-)Tätigkeiten gefragt sind – etwa im Haushalt –, «sind die Berufe relativ gut geschützt vor ChatGPT.» Die Suchanfragen Jugendlicher auf Lehrstellenplattformen zeigten nach Einführung von ChatGPT diesen «Knick»: Plötzlich wurde weniger nach Berufen mit hohen kognitiven Anforderungen gesucht – allen voran sprachlichen kognitiven Fähigkeiten – ganz im Gegensatz zu manuellen Berufen, bei denen die Nachfrage nicht sank. Die Jugendlichen spürten sofort: KI kann nicht einfach nur kognitive Arbeit verrichten, sondern auch Nichtroutinetätigkeiten erfüllen. Welche Berufe die generative KI ersetzen wird, lässt Wolter offen. Während er einräumt, dass einige Berufe «zu wenig schnell verschwinden» könnten, ist er sich sicher, dass eher die Allgemeinbildung und eher die akademischen Berufe gefährdet sind. So beantwortet die KI nicht nur E-Mails oder behandelt Kundenanfragen, sondern sie sucht auch innert Minuten nach Dutzenden von Gerichtsfällen, wofür ein Anwaltspraktikant Monate benötigt. Die Krux: Die Anwälte sehen keinen Grund mehr, Praktikanten zu beschäftigen. Und diesen fehlt dann die notwendige Praxis. 20 Prozent Lohnverlust Einige sehen KI als Chance. Unter Arbeitnehmenden dominiert aber die Befürchtung, dass der technologische Fortschritt die beruflichen Qualifikationen entwerten und so zum Verlust des Arbeitsplatzes führen wird, heisst es in einer neueren Studie Wolters*. Demnach wären Arbeitnehmende zu einem Lohnverzicht von 20 Prozent bereit, wenn dafür das Risiko, dass ihr Beruf wegrationalisiert werden könnte, um nur gerade 10 Prozentpunkte sinken würde.
Wolter nimmt die aktuellen Sorgen ernst, findet aber historische Parallelen zu den aktuellen Ressentiments gegen technologischen Wandel: etwa den Ustermer Maschinensturm von 1832, als die Mechanisierung Hunderte Weber zum Abfackeln einer Weberei trieb. Solche Phänomene zeigten, dass die Technologie langfristig zwar positive Wirkungen hatte, aber dass es davor lange Phasen von politischen Unruhen, Armut und prekären Arbeitsbedingungen gab. «Das sollte man sich ab und zu in Erinnerung rufen», findet Wolter.
Ein Problem des Bildungswesens: Die Digitalisierung bringe viele Chancen mit sich. Aber dass der Mensch seit der Steinzeit bei seiner Hirnleistung gern Energie spart und Abkürzungen nimmt, ist gerade jetzt eine reale Gefahr für die Lernmotivation. «ChatGPT und solche Modelle spielen dem Hirn einen Streich, weil sie sowohl die Motivation als auch die Lernfähigkeit massiv reduzieren.» So müsse der Siebenjährige sein Hirn davon überzeugen, dass er etwas lernt, das er dank KI bereits «kann». Technologie verbessere dafür Menschen, die etwas bereits beherrschten. Etwa eine Sprache.
Nach anderthalb Stunden Gespräch mit Dr. Wolter haben sich viel statistische Aussagen über die Bildung angesammelt. Mit Augenzwinkern meint Wolter: «Ich rate Ihnen, ChatGPT mit dem Gespräch zu füttern.» Pragmatisch, aber eben: effizient und effektiv.
Mark Gasser
Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft
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