Die Influencer-Flüsterer

Sind Influencer noch In? Haben Instagram, TikTok und weitere Soziale Medien nicht ihre kommerzielle Wucht verloren? Nein, findet Tanja Herrmann. Besuch bei der Gründerin von einer der ersten Schweizer Agenturen für Influencer-Marketing im Zürcher Seefeld.

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Bild Mark Gasser

Tanja Herrmann in der Dachstockwohnung der von ihr gegründeten Firma Webstages: Die Influencer sind alle «outsourced», haben also nicht hier ihren Arbeitsplatz.

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Tanja Herrmann in der Dachstockwohnung der von ihr gegründeten Firma Webstages: Die Influencer sind alle «outsourced», haben also nicht hier ihren Arbeitsplatz.

Wer da junge, muskulöse Menschen erwartet, die sich mit technologischen Gimmicks filmen und vor einem Bluescreen oder auf der Yogamatte räkeln, ist hier fehl am Platz: Es ist eigentlich eine unscheinbare, zum Büro umgebaute Dachstockwohnung an der Bellerivestrasse. Von Hektik keine Spur. Und man fragt sich: hier sollen Influencer-Kampagnen für Baloise, Mercedes, Migros und weitere Branchengrössen entstehen?

Das ist nicht aussergewöhnlich. Erstens beschäftigt sich die Firma Webstages von Tanja Herrmann zwar mit Instagram, TikTok und Co. als Verkaufs- und Werbefläche, aber eben nur «hinter den Kulissen»: Sie vermitteln zwischen Auftraggebern und Influencern, im Jargon: Influencer Marketing. Anderseits ist das Jahresende und die Vorweihnachtszeit seit der Firmengründung ohnehin eher ruhig. «Weil soviel Werbedruck besteht, ballern viele Kunden ihr ganzes Budget für die Saison bereits vor Jahresende raus.» Ausserdem hätten viele Influencer-Kamapgnen einen Fokus auf organische – also durch die Community, nicht Werbung verbreitete – Beiträge. Entsprechend sind viele dieser Kampagnen knapp vor der Weihnachtszeit abgeschlossen oder laufen auf Ende des Jahres langsam aus», sagt Tanja Herrmann. Auf den Desktopcomputern bedienen ihre Mitarbeiterinnen dafür interaktive Dashboards mit Nutzerfrequenzen, Datenbanken, Excel-Spreadsheets und viele weitere Controlling-Instrumente, um die Kampagnen möglichst scharf zu beobachten.

Auch im Personalmanagement müssen die neun Frauen sich auskennen. Jede Projektleiterin betreut vier bis acht Kampagnen – und pro Kampagne vier bis fünfzig Influencer. «Diese erstellen alle parallel für uns Content.» Die Influencer sind aber «outsourced», haben nicht hier ihren Arbeitsplatz. Doch warum braucht es pro Kampagne so viele «externe» Influencer? «Die Halbwertszeit eines Posts auf Instagram beträgt maximal drei Tage. In der Regel spricht man gar nur über die ersten 24 Stunden», sagt Herrmann. Damit die Kontakte (Touch Points) eine gewisse Anzahl erreichen, braucht es eine Strategie und oft eine dazu passende Kampagne. Ausserdem muss man am Puls der Zielgruppe sein: «Jede Plattform wird zunächst eher von Jüngeren verwendet, dann wird sie mit der Nutzerschaft älter», sagt Herrmann. Analog sind die Influencer auf Instagram meist 20- bis Ende 30-Jährige, auf TikTok eher jünger.

Mit der Digitalisierung veränderte sich auch das Marketing in den letzten Jahren. Neue Formen der Werbung verschwinden allerdings auch so schnell wieder, wie sie aufgetaucht sind. Aber wird denn der Einzelne überhaupt noch gehört, wenn ein gleichbleibender Werbe- und Follower-Kuchen eine wachsende Anzahl Influencer-Mägen füllen soll? «Der Kuchen wird grösser, denn Budgets werden aus anderen sparten in diese Disziplin umgebucht», so Herrmann

Damals, als sie ihre Agentur 2017 gründete, brachte Tanja Herrmann ihre Erfahrung aus einem von Coca-Cola, ihrem damaligen Arbeitgeber, lancierten europaweiten Projekt einer Content-App für Teenager mit. Herrmann, die zuvor fürs Live-Marketing beim Getränkegiganten zuständig war, hörte sich innerhalb ihres Unternehmens in anderen Ländern um bezüglich Influencer-Marketing. «Wie in vielen technischen Angelegenheiten, hinkte die Schweiz hinterher.» Sie erkundigte sich bei Teenagern innerhalb des Konzerns: Was fanden diese cool, wem folgten sie? «Wir starteten sehr handgestrickt: Niemand wusste, wie viel so ein Post wert war. Doch wir schafften es mit der ersten Kampagne für Fanta, bei vielen Teenagern präsent zu sein.» Dass es aber an Agenturen fehlte, um das Projekt weiter zu betreuen, spürte Herrmann schnell: Viele Marketingfirmen bezeichneten sich zwar als Spezialisten, wollten von der Goldgräberstimmung der aufkommenden neuen Vermarktungsform profitieren. «Sie unterschätzten aber das Business, nahmen es zu wenig ernst», so Herrmann. Der Tenor in der Werbebranche: einige selbstverliebte Teenager, die Fotos von sich posten, im Vorbeigehen auch noch ins Portfolio aufzunehmen, kann nicht so schwer sein. «Klassische Werbeagenturen betrauten Praktikantinnen mit dem Influencer-Marketing.» Tanja Herrmann belächelte den Influencer-Trend nicht. Mittlerweile unterrichtet sie an Hochschulen und gibt ihr Wissen über Influencer Marketing und Social Media weiter.

Influencer – ein Knochenjob?

Doch was ist überhaupt eine Influencerin, ein Influencer? Die einfache Erklärung: «wenn die Inhalte für eine gewisse Gruppe Menschen relevant sind.» Wer das als Beruf machen möchte, muss mehrere Fähigkeiten beherrschen: «Im Idealfall ist ein Influencer ein professioneller Texter, Fotograf oder Videograf. Seine Kernkompetenz besteht in der Erstellung von Inhalten, welche von einer kritischen Masse für relevant gehalten wird.» Aber gerade in dieser glitzernden Selbstvermarktungs-Welt ist vieles Schein statt sein: wer sich als Influencer bezeichne, sei oft gar keiner. «Unternehmen suchen Leute, die gleichzeitig texten können, mit der Kamera gleich noch beim Event vorbeigehen, Fotografieren, schneiden, idealerweise die Texte noch in drei Sprachen übersetzen – und Ende Monat noch das Budget und das Reporting dazu erledigen.»

Hinzu kommen aber auch administrative Aufgaben: Rechnungen stellen, Sozialabgaben abrechnen, Steuererklärung ausfüllen, mahnen und betreiben, rechtliche Grundlagen wie Nutzungsrechte, Urheberrechte, Vertragsverhandlungen richtig führen. «Man benötigt eigentlich die ganze kaufmännische Grundausrüstung für die Ausübung des Berufs.» Drittens müsse man Marketingmechanismen verstehen: Einen Kanal aufbauen, ein Markenversprechen einlösen, den eigenen Wert beziffern können, eigene Werte vorleben. Daher sei ihr Ansatz, die kaufmännische Grundkenntnis mit Marketingwissen zu synchronisieren. Zwei ihrer eigenen Mitarbeiterinnen haben einst auf einer Gemeinde das KV gemacht).

Vom TikTok Star zum Foodblogger mit laktosefreien Rezepten über den Do-It-Yourself-Hobbyschreiner – bezüglich Content haben sie laut Herrmann alle eines gemeinsam: «Sie brauchen eine gewisse Glaubwürdigkeit, die aufgebaut werden muss.» Und dafür braucht es wiederum eine thematische Eingrenzung, eine Positionierung. Wenn als «Währungsstabilisator» Glaubwürdigkeit fungiert, liesse sich das nicht mit den auf Vertrauen basierten, volatilen Kryptowährungen vergleichen? Nur beschränkt, findet Herrmann: «Ich nenne Kryptowährungen die Olympiade  des Selbstmarketing. Denn Kryptowährungen beruhen einzig und allein auf der Spekulation, genug Menschen zu finden, die an sie glauben. Bei den Influencern hingegen wird realer Content erstellt, der verfügbar, abrufbar und für eine bestimmte Gruppe relevant ist.»

Kann der Wert eines Beitrags beziffert werden?

In der Schweiz findet Influencermarketing fast ausschliesslich auf Instagram und TikTok statt: Oft ist ein kurzer Videobeitrag bei TikTok oder Instagram eine Tagesarbeit.

Wie wird aber der reale Wert eines Posts ermittelt? Welchen Stundenlohn kann ein Freelancer verlangen? Herrmann kennt als Vermittlerin viele Verträge: Die Gage in der Schweiz für einen Post bewege sich bei 95 Prozent der Influencer zwischen 350 und 2000 Franken. Der Wert ergebe sich aus verschiedenen Parametern: Der Aufwand sowie die Grösse und Aktivität der Community.

Die meisten Freelancer starten laut Herrmann bei 120 Franken pro Stunde. «Das ist bei der Tagesgage dann vergleichbar mit einem Fotografen.» Als Selbständige zahlen Influencer die Arbeitgeberbeiträge obendrauf. Vorteilhaft für Unternehmen sei, dass mit dem Influencer und dessen Content gleich noch «die ganze Zielgruppe mitgeliefert» werde. So seien die Preise eine Mischung aus Arbeitsaufwand und dem Zugang zur Community.

Nach der Anfrage vom Kunden, der Erklärung zum Produkt und der übergeordneten Kampagne, in der das Produkt vermarktet wird, schickt die Influencerin ein Angebot – bemessen nach Arbeit. Diese wird verhandelt, worauf ein Rahmenvertrag ausgearbeitet wird. Diesen Prozess begleiten Agenturen wie jene von Tanja Herrmann. Mehrwertsteuer, Sozialabgaben, Nutzungsrechte, Haftung – die Details gehen oft über die üblichen Elemente eines Vertrags hinaus.

Dann folgt das Briefing mit der Influencerin, mit der das Produkt oder die Dienstleistung in einem Kickoff-Call besprochen wird, darauf wird ein Storyboard entworfen und festgesetzt. Vor der Produktion werden Produkte eingekauft, getestet, gefolgt vom Filmen oder Fotografieren, ergänzt allenfalls durch Musik und Untertitel. Möglich ist auch, dass dann nach Feedback vom Auftraggeber eine Korrekturschlaufe hinzukommt. Dann wird der Content auf dem jeweiligen Kanal gepostet, die Kommentare beantwortet und im Anschluss die Statistiken eingereicht. «Und das ist ein Post für einen Tag.»

B2B-Influencer?

Influencer Marketing im Rahmen einer Kampagne übersteigt in der Regel die Ressourcen eines KMU. Dasselbe gilt für B2B-Marketing. «Wenn in der Schweiz jemand Experte ist, arbeitet er bereits bei einer grösseren Firma wie Swisscom, Salt oder Sunrise.» Auch Herrmanns B2B-Kunden sind eher grössere Unternehmen: «Unsere Kampagnen starten in der Regel ab 10’000 Franken. Vorher lohnt es sich gar nicht, eine Agentur zu briefen, welche den Grundaufwand dafür betreibt.»

Für kleinere Unternehmen rät sie trotzdem davon ab, «den Lehrling das Social-Media-Marketing machen lassen.» Es sei relativ einfach, über die digitalen Kanäle wie TikTok mehrere Tausend Interaktionen zu generieren – pro Beitrag. Im Print ist das oft ein Bruchteil – aber hier werde eine vergleichsweise unauffällige Marketingmassnahme oft von oberster Ebene abgesegnet. Ein Widerspruch. Gerade bei dieser Reichweite sei es «strategisch so ein wichtiger Entscheid, wie ein Unternehmen sich auf dem Kanal präsentiert.» Diese Posts könnten die öffentliche Wahrnehmung wesentlich beeinflussen.

Allgemein gilt die Formel: Menschen folgen Menschen. Statt Organisationen wollen die Nutzer Gesichter. «Ich will jemanden, der für einen Content verantwortlich ist – etwas Reales, kein juristisches Gebilde.» Das ist auch der Grund, warum auf vielen Kanälen (etwa LinkedIn) Einzelpersonen oft mehr Reichweite hätten als ihre Unternehmen, warum Elon Musk mehr Follower hat als Tesla.

Und wie ist das bei Parteien? Haben die Parteien in den letzten vier Jahren gelernt, ihre Auftritte auf Social Media besser zu vermarkten, zu personalisieren? «Politiker sind sicher agiler geworden. Mein Eindruck ist aber immer noch, dass es auf der Initiative von Einzelpersonen basiert und nicht zuoberst auf der Prioritätenliste einer Partei steht.» Ein Rezept, das in der Politik zu wenig erkannt werde: «Wenn ich Vertrauen bei potenziellen Wählern aufbauen will, muss ich mich verletzlich zeigen, und damit auch Angriffsfläche bieten.» Paradoxerweise präsentierten sich viele Politiker so «glatt» wie möglich – aber etwas greifbarere Einblicke in das Wertesystem dieser PolitikerInnen könne authentischer sein als ein steifer Monolog im Anzug.

Stellenbörse über TikTok

Gerade TikTok mit rund 2 Mio. NutzerInnen in der Schweiz erfreue sich als Kanal, um auf neue Berufsbilder aufmerksam zu machen, immer grösserer Beliebtheit. Zielgruppe für viele Unternehmen: Die zukünftigen Lernenden. Das heisst aber nicht, dass Lernende auch in Eigenregie den Content erstellen. Intuitiver Umgang mit Social Media und technisches Know-How der Gen Z seien nicht Garant für inhaltlich und qualitativ guten Content. Oft sei gar das Gegenteil der Fall.

Herrmann selber hat Mandate für Kampagnen aus der Privatwirtschaft, etwa aus der Metall- und Stahlbaubranche, aber auch von kantonalen Organisationen. So begleitet sie die Social Media Strategie des Erziehungsdepartements Basel-Stadt: wenn dieser Teil der Bevölkerung über Print nicht mehr erreichbar ist, hat die Regierung den Auftrag, digitale Formate und Algorhythmen sinnvoll einzusetzen. Einige Mitarbeitende, die zuvor für den Printbereich zuständig waren, standen kurz vor der Pensionierung. «Sie zweifelten an ihrer Kompetenz, merkten aber schnell, dass ihre vierzigjährige Erfahrung, Texte zu redigieren und lesbar zu machen, unglaublich wichtig ist für Social Media. Diese Personen waren zehnmal geeigneter als die Praktikantin, um die Caption zu schreiben.»

Mindestens 2000 bis knapp 3000 Influencer (bei hoher Fluktuation), schätzt Herrmann, gebe es in der Schweiz – je nachdem, wie streng man die Kriterien ansetzt. Konnten vor einigen Jahren noch zehn Prozent davon leben, schätzt sie heute bis zu einemn Viertel davon als hauptberufliche Influencer ein. «Die meisten haben noch eine Teilzeitstelle, die ihnen, ganz nach Schweizer Manier, Sicherheit gibt.»

Gibt es nebst den vielen administrativen Aufgaben weitere Kehrseiten? Viele unterschätzten die ungefilterten Rückmeldungen – früher hatten öffentliche Personen eine Agentur, PR-Beratung oder ähnliches als Puffer hatten. «Jetzt kriegt man die Hassnachrichten abends um 10 Uhr auf dem eigenen Smartphone. Und es gibt keinen Schutz zwischen dem Feedback und meiner Person.» Die Kritik sei besonders scharf bei Mutterschafts-Themen wie dem Stillen.

Mark Gasser

Chefredaktor
Zürcher Wirtschaft

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