Berufsbildung trotz(t) Corona

Das duale Bildungssystem scheint die Coronapandemie insgesamt gut gemeistert zu haben: Zwar kam es zeitweise zu einer Knappheit an Schnupperlehren, Lehrvertragsauflösungen in grösserem Stil blieben jedoch in allen Branchen aus. Auch der Lehrstellenmarkt blieb stabil.

Bild stock.adobe.com/Robert Kneschke

Verbundpartner der Berufsbildung, Ausbildner und Lernende haben Corona gemeinsam gemeistert: es kam zu keinen grösseren Einbrüchen.

Die Coronapandemie hat die Anzahl der abgebrochenen Lehren nicht in die Höhe getrieben. «Die LehrstellenPuls-Befragungen von ausbildenden Betrieben zeigt, dass mit rund 0.1 Prozent nur ein sehr geringer Anteil von Lehrverträgen aufgrund von COVID-19 aufgelöst worden ist», sagt Thomas Bolli, Direktor des Swiss Education Lab der ETH Zürich. Auch das Lehrstellenangebot sei während der Pandemie nicht eingebrochen. Das Forschungsprojekt LehrstellenPuls misst seit April 2020 monatlich die Auswirkungen der Pandemie auf die Berufslehren, Lehrbetriebe und Jugendlichen in der Schweiz.
«Entgegen anfänglichen Befürchtungen ist es zu keinen Lehrvertragsauflösungen in grösserem Stil gekommen», bestätigt auch Tiziana Fantini vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Die Berichte der Task Force «Perspektive Berufslehre» für die Jahre 2020 und 2021 zeigten einen «weitgehend stabilen Lehrstellenmarkt». Die Task Force wurde im Mai 2020 vom damaligen Bundespräsidenten Guy Parmelin eingesetzt. Sie setzte sich dafür ein, dass «trotz Corona-Pandemie möglichst viele Jugendliche eine Lehrstelle finden», wie es auf der Webseite der Task Force heisst.

Stabile Lehrstellensituation
Gemäss Rückmeldungen aus den Kantonen habe es lediglich in von der Pandemie besonders betroffenen Branchen, wie der Fitness- und Eventbranche sowie im Hotel- und Gastronomiebereich vereinzelte Vertragsauflösungen auf Grund von Betriebsschliessungen gegeben. «Von einem Konkurs betroffene Lernende fanden aber meist rasch eine Anschlusslösung», so Mediensprecherin Fantini. In den meisten Fällen hätten diese Jugendlichen weitervermittelt werden können. Zum Teil seien Lernende auch in Lehrbetrieben aus anderen Kantonen untergekommen. «Die Solidarität war gross», so Tiziana Fantini.
Auch das Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Zürich meldet, dass sowohl die Zahl der abgeschlossenen Lehrverträge als auch die Zahl der gemeldeten offenen Lehrstellen über die Coronapandemie hinweg stabil geblieben seien. Bislang hätten sich keine Auswirkungen auf die Lehrstellensituation gezeigt.

Problem: Fehlende Praxis
Jörg Gantenbein kommt aus einer dieser von Covid-19 besonders betroffenen Branchen. Er ist Präsident des Schweizer Verbands technischer Bühnen- und Veranstaltungsberufe (svtb). Was bereitete seinen Lehrbetrieben in den letzten zwei Jahren die grössten Schwierigkeiten? «Das grösste Problem war die fehlende Praxis, da fast keine Aufträge vorhanden waren», antwortet Gantenbein. Erschwerend sei hinzugekommen, dass es überall Personenzahlbeschränkungen gegeben habe und die Lernenden in der Folge nicht mit den Fachkräften hätten arbeiten können. «Diese Situation führte auch dazu, dass praktisch keine Schnuppertage angeboten werden konnten und so nur wenige Lehrstellen für 2021 resultierten», so Gantenbein. Eine überdurchschnittliche Anzahl von Lehrabbrüchen beobachtete aber auch er nicht.
Viele Hilfsprojekte
Um die Praxisausbildung sicherzustellen, hat der svtb die überbetrieblichen Kurse verlegt. Zusätzlich hatten die Lernenden laut Gantenbein die Möglichkeit für ein bis zwei Monate in Betriebe zu wechseln, in denen die Tätigkeiten nicht so stark beeinträchtigt waren.
Gemeinsam mit dem Partnerverband artos, Lehrbetrieben, Bund und Kantonen hat der svtb zudem für die Monate Februar und März 2021 das Swiss Education Showcase «Next Generation 2021» ins Leben gerufen. Dabei fanden neun virtuelle Grossveranstaltungen mit bekannten Schweizer Künstlerinnen und Künstlern an verschiedenen Standorten in der Schweiz und Liechtenstein statt. Licht und Ton inszenierten dabei Lernende aus der Branche.
Rund 90 derartiger Projekte zur Stabilisierung des Lehrstellenmarktes hat das SBFI gemäss eigener Aussage im Rahmen des Förderschwerpunkts «Lehrstellen Covid-19» bis Ende Februar 2022 mit Beiträgen von insgesamt 23 Millionen Franken unterstützt: Von virtuelle Lehrstellenbörsen und Berufsmessen über Bewerbungstrainings für Lehrstellenbewerbungen bis hin zu einem Schulungshotel für Lernende aus der Hotellerie und Gastronomie.

Hafen für Gastrolernende
Mit «Gastro Porto» haben die Zürcher Hoteliers, der Gastgewerbeverband GastroZürich und der Kanton Zürich vergangenes Jahr ebenfalls ein Projekt lanciert. Das Ziel: Lernenden in der schwierigen Zeit der Coronapandemie eine Perspektive bieten. Mit Schnuppertagen, Kursen und Trainings für sämtliche Berufe der Branche sowie einer virtuellen Werkstatt, in der Fachleute Lernende unterstützten, wollten die Verantwortlichen mögliche Ausbildungslücken schliessen. Mit dem Aufbau eines Lehrbetriebsverbundes bot man Lernenden zusätzlich eine Anschlusslösung, wenn diese aufgrund einer Betriebsschliessung die Lehrstelle verloren hatten und keine anderer Ausbildungsplatz in Sicht war.
Paul Nussbaumer war 26 Jahre lang Direktor der Hotelfachschule Belvoirpark in Zürich. Heute ist er unter anderem als Präsident von Hotel & Gastro formation Zürich tätig. Das mittlerweile wieder eingestellte Hilfsprogramm «Gastro Porto» bezeichnet er als Erfolg. «Mehrere hundert junge angehende Berufsleute konnten die durch den Lockdown und die Betriebsschliessungen entstandenen Ausbildungs- und Trainingslücken füllen und sich auf die Lehrabschlussprüfung vorbereiten», sagt Nussbaumer.

Lehrabbrüche reduzieren
In Sachen Lehrabschlussprüfungen und Lehrabbrüchen hat die Coronapandemie im Kanton Zürich in der Hotel- und Gastrobranche gemäss Paul Nussbaumer keine grossen Spuren hinterlassen: «Die Erfolgsquote bei den Lehrabschlussprüfungen war praktisch identisch mit den Vorjahren». Dasselbe gelte für die Lehrabbrüche. Auch hier habe es keine signifikanten Veränderungen gegeben. «Daraus dürfen wir schliessen, dass Gastro Porto einen – vielleicht sogar wesentlichen – Beitrag geleistet hat», so das Fazit des Präsidenten von GastroZürich.
Zusammen mit dem Friseurgewerbe (33 Prozent), der Elektrizitäts- und Energiebranche (32 Prozent) und der Sportbranche (31 Prozent) weist das Gastgewerbe (31 Prozent) gemäss einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Untersuchung des Bundesamtes für Statistik für den Zeitraum zwischen 2016 und 2022 eine der höchsten Lehrvertragsauflösungsquoten aus. Die Hotel- und Gastro-Branche hat sich laut Nussbaumer parallel zum Projekt Gastro Porto dieser Problematik angenommen: Unter dem Namen «CoBe – Coaching durch Betreuung» hat der Gastgewerbeverband GastroZürich ein Projekt gestartet, dass den Lehrbetrieben, Berufsbildnern und Berufslernenden im Kanton Zürich ein professionelles Betreuungs- und Coachingangebot zur Verfügung stellt. Das Ziel besteht laut Webseite darin, die Anzahl von Lehrabbrüchen zu reduzieren und die Erfolgsquoten im Qualifikationsverfahren zu erhöhen.

Arbeit an Weihnachten
Als «komplex und vielschichtig» bezeichnet Paul Nussbaumer die Lehrabbruch-Problematik in seiner Branche – und versucht sich an einer Erklärung: Für junge Leute in der Hotel- und Gastrobranche seien deutlich mehr Einschränkungen gegenüber dem Standard-Sozial-Leben eines Jugendlichen zu verkraften. «Auch ein Lokführer arbeitet an Weihnachten, an Silvester, am Wochenende und nachts – aber: er weiss es ein Jahr im Voraus!», illustriert der gelernte Koch. Diese nicht langfristige Planbarkeit, der tagtägliche physische und psychische Stress in Spitzenzeiten sowie das völlig veränderte Sozialleben der jungen Menschen sei eine Belastung sondergleichen, auch wenn sie unterschiedlich empfunden werde.
Diese Kumulation von Besonderheiten seiner Branche seien sowohl für die Lernenden als auch für deren Ausbildner eine Herausforderung, auf die sie oft zu wenig vorbereitet seien. «So greifen der Ausbildner und die Ausbildnerin, die ja selber im hektisch drehenden Rad gefangen sind, häufig auf Verhaltensweisen wie Härte oder durchbeissen zurück, die sie selber erlebt oder erlernt haben und für ‹normal› halten», erklärt Nussbaumer. Mit «CoBe» wolle man unter anderem versuchen auch solche Muster zu durchbrechen und Veränderungen der Einstellung, der Sichtweise und des Verhaltens herbeizuführen.

Marcel Hegetschweiler

Fachjournalist Wirtschaft und Gesellschaft

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